Das ist eine Demokratie-Krise

Der Geist von Diktatoren wie Nicolae Ceauşescu erwacht in den Reaktionen der europäischen Elite auf die Eurokrise zu neuem Leben. Dasselbe Misstrauen gegenüber der Demokratie, das früher die Schwellenländer oder die postkommunistischen Länder einschränkte, gewinnt heute in Europa an Boden.

Veröffentlicht am 25 Januar 2013 um 12:57

In einem der letzten Interviews vor seinem Niedergang wurde Nicolae Ceauşescu von einem westlichen Journalisten gefragt, wie er denn die Tatsache rechtfertige, dass rumänische Staatsbürger nicht ungehindert ins Ausland reisen durften, wenn doch die Freizügigkeit durch die Verfassung zugesichert war.

Seine Antwort stand in bester Tradition der stalinistischen Sophisterei: Es sei schon richtig, dass die Verfassung das Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsorts garantiere, doch sie garantiere auch das Recht auf eine sichere, prosperierende Heimat.

Das seien also widersprüchliche Rechte: Wenn rumänische Bürger das Land verlassen dürften, dann würde dadurch der Wohlstand ihres Heimatlandes gefährdet. In diesem Konflikt müsse man Entscheidungen treffen, und das Recht auf ein prosperierendes, sicheres Heimatland habe hier eindeutig Priorität...

Diese Geisteshaltung ist anscheinend im heutigen Slowenien quicklebendig. Letzten Monat befand das [slowenische] Verfassungsgericht, ein Referendum über ein Gesetz zur Einrichtung einer „Bad Bank“ in Staatsbesitz sei verfassungswidrig – und verbot faktisch einen Volksentscheid in dieser Sache. Das Referendum war von Gewerkschaften vorgeschlagen worden, die die neoliberale Wirtschaftspolitik des Landes hinterfragen, und der Vorschlag hatte auch genügend Unterschriften erhalten, um durchgesetzt zu werden.

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Das verbotene Referendum

Der Gedanke hinter der „Bad Bank“ ist der einer Stelle, an welche alle notleidenden Anleihen der wichtigen Banken übertragen werden. Letztere werden somit durch Staatsgelder gerettet (also auf Kosten des Steuerzahlers), und dadurch die ernsthafte Untersuchung vermieden, wer nun eigentlich für diese Kreditunwürdigkeit verantwortlich ist.

Dieser Maßnahme, die monatelang diskutiert wurde, stimmten bei weitem nicht alle zu, auch nicht alle Finanzexperten. Warum also das Referendum verbieten?

Als Giorgos Papandreous Regierung in Griechenland 2011 ein Referendum über die Sparpolitik vorschlug, gab es zwar Panik in Brüssel, doch sogar dort wagte es niemand, es direkt zu unterbinden.

Dem slowenischen Verfassungsgericht zufolge hätte ein Referendum „verfassungswidrige Folgen“ verursacht. Wie das? Das Gericht räumte zwar das verfassungsgemäße Recht auf ein Referendum ein, behauptete aber, seine Umsetzung würde andere verfassungsrechtliche Werte gefährden, welchen in einer Wirtschaftskrise Vorrang gewährt werden müsse: die effiziente Arbeitsweise des Staatsapparats, insbesondere bei der Schaffung der Voraussetzungen für ein Wirtschaftswachstum; die Wahrung von Menschenrechten, insbesondere das Recht auf soziale Sicherheit und auf freie Wirtschaftsinitiative.

Kurz gesagt, das Gericht ging bei der Beurteilung der Folgen des Referendums einfach von der Tatsache aus, dass eine Nichtbeachtung der Diktate der internationalen Finanzinstitutionen (oder eine Nichterfüllung ihrer Erwartungen) zu einer politischen und wirtschaftlichen Krise führen kann und somit verfassungswidrig ist. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Erfüllung dieser Diktate und Erwartungen ist die Bedingung dafür, die Verfassungsordnung zu erhalten, und somit haben sie Vorrang vor der Verfassung (und eo ipso vor der Staatssouveränität).

Der unmündige Bürger

Slowenien mag ein kleines Land sein, doch diese Entscheidung ist Symptom für eine globale Tendenz zur Beschränkung der Demokratie. Der Gedanke dabei ist, dass die meisten Menschen in einer komplexen wirtschaftlichen Situation wie der heutigen nicht für eine Entscheidung qualifiziert sind – sie sind sich der katastrophalen Konsequenzen, die sich nach der Erfüllung ihrer Forderungen ergeben würden, nicht bewusst.

Diese Argumentationsführung ist nichts Neues. In einem TV-Interview vor ein paar Jahren verknüpfte der Soziologe Ralf Dahrendorf das wachsende Misstrauen gegenüber der Demokratie mit der Tatsache, dass der Weg zu neuem Wohlstand nach jedem revolutionären Wechsel durch ein „Tal der Tränen“ führt.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus kann man nicht direkt zum Überfluss einer erfolgreichen Marktwirtschaft übergehen: Die begrenzte, doch effektiv vorhandene sozialistische Fürsorge und Sicherheit muss erst abgebaut werden – und diese ersten Schritte sind zwangsläufig schmerzhaft.

Das gleiche gilt auch für Westeuropa, wo der Übergang vom Nachkriegs-Wohlfahrtsstaat zur neuen globalen Wirtschaft mit schmerzvollen Verzichten, weniger Sicherheit und einer verminderten garantierten Sozialfürsorge verbunden ist. Für Dahrendorf wird das Problem durch eine simple Tatsache auf den Punkt gebracht: Der schmerzliche Übergang durch das „Tal der Tränen“ dauert länger als der durchschnittliche Zeitraum zwischen zwei Wahlen, so dass die Versuchung groß ist, schwierige Veränderungen zugunsten von kurzfristigen Wahlerfolgen hinauszuschieben.

Von der „verfrühten“ Demokratisierung

Das Musterbeispiel ist für ihn die Enttäuschung der breiten Straten postkommunistischer Nationen über die wirtschaftlichen Ergebnisse der neuen demokratischen Ordnung: In den glorreichen Tagen von 1989 setzten sie Demokratie mit dem Überfluss der westlichen Konsumgesellschaften gleich – nun ist der Überfluss 20 Jahre später immer noch nicht da und so schreiben sie der Demokratie selbst die Schuld zu.

Leider konzentriert sich Dahrendorf viel weniger auf die entgegengesetzte Versuchung: Wenn sich die Mehrheit den notwendigen strukturellen Änderungen in der Wirtschaft widersetzt, wäre es dann nicht eine der logischen Folgerungen, dass eine aufgeklärte Elite für etwa zehn Jahre die Macht übernimmt – sei es mit undemokratischen Mitteln – und die nötigen Maßnahmen durchsetzt, mit denen die Grundlagen für eine wirklich stabile Demokratie geschaffen werden?

In diesem Sinne hob auch der Journalist Fareed Zakaria hervor, inwiefern sich die Demokratie nur in wirtschaftlich entwickelten Ländern durchsetzen kann. Wenn Entwicklungsländer „verfrüht demokratisiert“ werden, dann ergibt sich daraus ein Populismus, der in einer wirtschaftlichen Katastrophe und in politischer Tyrannei endet – kein Wunder, dass die heute wirtschaftlich erfolgreichsten Schwellenländer (Taiwan, Südkorea, Chile) eine vollständige Demokratie erst nach einer Zeit der autoritären Herrschaft annehmen. Und liefert diese Denkweise nicht außerdem das beste Argument für das autoritäre Regime in China?

Neu ist heute, dass dieses Misstrauen gegenüber der Demokratie – das früher auf Entwicklungsländer oder postkommunistische Schwellenländer beschränkt war – seit Beginn der Finanzkrise 2008 auch im entwickelten Westen an Boden gewinnt: Was vor ein oder zwei Jahrzehnten noch herablassende Ratschläge an andere waren, betrifft uns nun selbst.

Die Ratio der „irrationalen“ Volksproteste

Zumindest beweist diese Krise, dass hier nicht die Bevölkerung, sondern die Fachwelt selbst keine Ahnung hat. In Westeuropa wohnen wir effektiv einer zunehmenden Unfähigkeit der regierenden Elite bei – sie weiß immer weniger, wie man regiert. Schauen wir doch, wie Europa mit der Griechenlandkrise umgeht: Es übt Druck auf Griechenland aus, damit es seine Schulden zurückzuzahlt, ruiniert jedoch gleichzeitig seine Wirtschaft durch aufgezwungene Sparmaßnahmen und stellt dadurch sicher, dass die griechischen Schulden niemals zurückgezahlt werden können.

Ende Oktober letztes Jahr veröffentlichte der IWF selbst eine Untersuchung, die besagte, dass die wirtschaftlichen Schäden möglicherweise drei Mal so hoch sein werden wie vorher angenommen, und machte somit seine eigenen Empfehlungen zur Sparpolitik in der Eurokrise zunichte. Nun gibt der IWF zu, dass es kontraproduktiv wäre, Griechenland und andere schuldenbelastete Länder zu einer schnellen Reduzierung ihrer Defizite zu zwingen – doch erst, nachdem Hunderttausende von Arbeitsplätzen wegen derartiger „Fehlkalkulationen“ verloren wurden.

Und darin liegt die wahre Botschaft der „irrationalen“ Volksproteste überall in Europa: Die Protestierenden wissen sehr wohl, was sie nicht wissen. Sie tun nicht so, als hätten sie schnelle, einfache Antworten parat. Doch was ihnen ihr Instinkt sagt, stimmt – nämlich, dass die Machthaber es auch nicht wissen. In Europa werden heute die Blinden von den Blinden geführt.

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