Aktivisten von Greenpeace hielten sich 1997 auf der Insel auf

Das schwarze Gold von Rockall

Unbewohnbar, unbewohnt und von nordatlantischen Stürmen heimgesucht. Und dennoch steht die kleine Felseninsel Rockall auf hoher See im Mittelpunkt der Streitigkeiten, die sich vier europäische Länder liefern. Der Grund dafür: immense Erdölvorkommen, die unter dem Meeresgrund lagern.

Veröffentlicht am 14 Oktober 2010 um 13:25
Aktivisten von Greenpeace hielten sich 1997 auf der Insel auf

Nichts ist fragwürdiger als der Glaube daran, dass Rockall eine Insel – und zudem eine Phantominsel – ist. Und dennoch streiten sich vier europäische Staaten seit fast fünfzig Jahren darum, wer die Insel mithilfe welches Beschlusses, welches Erlasses oder dank welcher "Invasion“ annektieren darf. Dabei geht es ihnen nicht so sehr um das eigentliche Wesen der Insel (Es handelt sich um eine der entlegensten und abgeschiedensten Felseninseln der Welt.), sondern um das, was unter ihr liegt: Erdöl. Die aus vulkanischem Granit bestehende Pyramide ragt über den tobenden Strömen des Atlantiks wie die Flosse eines gigantischen Haies hervor. In diesem Teil der Erde ist der Ozean so unruhig, dass es fast unmöglich ist, die genaue Höhe des Felsens im Verhältnis zum Meeresspiegel zu bestimmten: Zwischen 20 und 30 Meter sind es. Seine Oberfläche beträgt etwa 642 m2.

Auch wenn seine Position bekannt ist – 57° 35’ 48” N und 13° 41’ 19” W –, so bleibt seine Ausrichtung ein Rätsel, weil das Gebiet von starken magnetischen Strahlungen durchzogen ist. Man erzählt sich, dass Rockall vor 55 Millionen Jahren aus dem Meeresboden hervorbrach, als der alte Superkontinent Laurasia zerbrach und sich Europa und Grönland abspalteten. Unter dem Namen Rochol ist der Fels erstmals 1550 auf einer portugiesischen Karte zu finden. Und dennoch wurde er zwei Jahrhunderte lang mit zwei anderen Inseln verwechselt: Zum einen der Phantominsel Frisland, von der unter anderem der aus Venedig stammende Seefahrer Nicolò Zeno berichtete. Zum anderen der ebenso mystischen Insel Buss.

Wem gehört Rockall?

Einige andere glauben noch immer daran, dass Rockall ein Überbleibsel des mythischen Königreichs Hy Brasil (Brasilinsel) ist: Eine Welt der ewigen Jugend, die ununterbrochen auftauchte und wieder verschwand – ebenso wie Rockall, der zuweilen von dreißig Meter hohen Wellen überschwemmt wird. Selbst die Etymologie seines Namens bleibt ein Rätsel: Die englische Bezeichnung "Rockall“ bedeutet vermutlich so viel wie "brüllender Felsen“, steht aber wahrscheinlicher in Verbindung mit dem Namen des Seefahrers Basil Hall, der seine Existenz erstmals 1881 erwähnte. Eine Sache ist jedoch sicher: Rockall befindet sich 301,40 Kilometer im Westen der schottischen Insel St. Kilda (die damit das nächstgelegenste Festland darstellt) und ist 424 KiIometer vom irischen Donegal entfernt.

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Wem aber gehört Rockall? Diese Frage entfacht unterschiedlichste Leidenschaften. Im Namen seiner Majestät und mithilfe eines Parlaments-Beschlusses beanspruchte Großbritannien den Fels 1972 und annektierte ihn in Verbindung mit der Insel Harris – dem Zankapfel der schottischen Grafschaft Inverness. Kein einziger Staat hat diesen Gewaltstreich anerkannt. Vor allem nicht Irland, Island und Dänemark. Sie alle gebärden sich nämlich gleichsam expansionistisch.

Rockall ist ein Weltkulturerbe, meint Greenpeace

Jemand sollte ein Buch über diesen Revierkampf schreiben, der - ungeachtet der adminstrativen Beschlüsse - ein Teil der Menschheitsgeschichte ist, nicht nur aufgrund der Seefahrer, deren Schiffe an dem Felsen zerschelten. Sondern auch wegen der wenigen Glücklichen, die ihn betreten haben. Zu ihnen gehört unter anderem der Naturforscher James Fischer, der – von drei Militärs begleitet – Rockall 1955 im Auftrag von London eroberte. Als offizieller Grund sollte die Sowjetunion daran gehindert werden, die ersten britischen Raketenversuche von den Hebriden-Inseln auszuspionieren. Anschließend versuchten einige andere Personen, den Gipfel des Monoliths zu erklimmen – einige mit Erfolg. Jedoch blieb die Errichtung eines auch noch so kleinen Leuchtturms ein Ding der Unmöglichkeit. Gegenwärtig bereitet man die x-te Expedition vor: Ein ehemaliger Angehöriger des britischen Militärs – Nick Hancock – würde den Rockall gern 2011 erklimmen und anlässlich des 200. Geburtstages seiner Entdeckung zwei Monate lang dort verweilen.

In Wirklichkeit können diese "Angriffe“ nicht allein als heroische Taten gesehen werden. Laut dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen ist eine Insel einerseits ein Gebiet, das dazu in der Lage ist, menschliches Leben zu beherbergen; andererseits ist es ein Territorium, auf dem eigenständige wirtschaftliche Aktivitäten stattfinden können. Wenn diese Kriterien nicht erfüllt werden können, so handelt es sich um einen Felsen: Und als solcher gehört er allen – oder niemandem. Rockall gehört demnach zum Weltkulturerbe. Dieser Meinung ist auch Greenpeace, die den Felsen 1997 42 Tage lang "eroberte“, um auf ihm den freien Staat Waveland zu gründen und damit gegen die Ausbeutung der Erdölvorkommen unter dem Meeresboden zu protestieren. Mithilfe des Internets hatten die Umweltschützer Menschen aus der ganzen Welt zusammengeführt. Jedoch ging das Unternehmen Pleite, das die Initiative gesponsert hatte.

Die Briten haben versucht, diesen "brüllenden Felsen“ zu bewohnen, um seine Annexion zu legitimieren und auf diese Weise wirtschaftliche Exklusivrechte in diesem [200 Seemeilen großen] Gebiet geltend zu machen. Schließlich beherbergt dieses nicht nur Fischereizonen, sondern auch – und vor allem – bergbauliche Ressourcen und Erdölvorkommen, die unter dem Meeresgrund von Rockall verborgen liegen. Auf diese Art versucht man, andere potentielle Kandidaten aus dem Rennen zu werfen. Die Verhandlungen zwischen London, Kopenhagen, Reykjavík und Dublin sind eröffnet. Und – vielleicht – kehrt der Geist des europäischen Imperialismus in dieser Schlacht zum letzten Mal zurück.

Übersetzung: Julia Heinemann

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