Während der Proteste gegen die Ernennung des bulgarischen Geheimdienstchefs, Sofia, 14. Juni 2013.

Der Bürgerprotest ist ungebrochen

Seit fast einer Woche wird in Bulgarien demonstriert. Auslöser des Protests war die mittlerweile zurückgenommene Ernennung eines umstrittenen Abgeordneten zum Geheimdienstchef. Bereits im Februar hatte es Massenproteste gegeben, doch die Wut der Bürger ist ungebrochen.

Veröffentlicht am 19 Juni 2013 um 15:46
Während der Proteste gegen die Ernennung des bulgarischen Geheimdienstchefs, Sofia, 14. Juni 2013.

Vor einiger Zeit habe ich einen Artikel geschrieben, in dem ich erklärte, wie schön ich den lesenden Menschen finde. Mit Zurückhaltung gibt er sich seiner Liebe für Dinge hin, die nicht da sind. Und ein Mensch, der so liebt, kann kein Mistkerl sein.

Auch der demonstrierende Mensch ist schön. Aus denselben Gründen. Beide gehören heute zusammen, auf intime, aber intensive Art und Weise. Wenn der lesende Mensch auf die Straße geht, um zu protestieren, erkennt man ihn sofort wieder. Sein Protest erscheint klarer, vernünftiger. Genau das gibt es derzeit auf den Straßen von Sofia und anderswo zu sehen. Im buchstäblichen wie im metaphorischen Sinne gehören die aktuellen Demonstrationen den Kindern. Den Kindern und Enkelkindern von jenen, die sich im Februar aufgerafft haben, um gegen die hohen Strompreise auf die Straße zu gehen.

Doch Juni ist nicht Februar. Die Kinder des Monats Juni fordern mehr. Heute geht es nicht mehr um Geld oder nicht bezahlte Stromrechnungen. Im Februar reagierte die politische Regierung rasch. Nach nur zwei Wochen, teilweise blutiger Proteste, trat die konservative Regierung von Bojko Borissow zurück. Doch wenn es ums Geld geht, sind die Dinge einfach: Man verspricht das Blaue vom Himmel, man verteilt staatliche Hilfen und macht die ausländische Hochfinanz, welche ja die Energieunternehmen kontrolliert, für den ganzen Schlamassel verantwortlich...

Gegen die „Schatten-Oligarchie”

Heute geht es um etwas ganz anderes. Und darum herrscht totale Verwirrung. Die Demonstranten sagen, dass sie keine Schatten-Oligarchie mehr wollen, welche hinter den Kulissen die Strippen des Landes zieht. Und die Eliten können es nicht verstehen — da es ja die Hand der Schatten-Oligarchie ist, welche sie nährt. Denn für die Elite ist ja Politik genau das: Hinterzimmerintrigen, in der Schatten-Oligarchen die Strippen ziehen. Heute hört man auch die all die Politologen vom Dienst nicht mehr, die sonst stets auf ihre selbstgefällige Art und Weise eine Analyse der Situation abliefern. Wie vom Erdboden verschwunden sind sie alle, die noch im Februar den Demonstranten die Worthülsen lieferten, welche von diesen armen Leuten, diesen gedemütigten Menschen, die ihre Stromrechnung nicht bezahlen konnten, übernommen wurden. In einer Endlosschleife wiederholten diese damals solchen Unsinn wie „isländisches Modell“, „irisches Modell“, „Verstaatlichung“, uns so weiter und so fort...

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Die Menschen, die heute Tag für Tag nach 18 Uhr 30 demonstrieren gehen, haben einen Job. Sie zahlen Strom- und Heizungsrechnung. Sie sind zahlreich — und sehr verschieden: Eltern, Lehrer, Journalisten, Schriftsteller, Theaterschauspieler, Ingenieure, Studenten, Leser... Keine Berufsdemonstranten, und noch weniger Hooligans. Damit solche Menschen auf die Straße gehen, müssen sie sich zutiefst beleidigt fühlen. Umso erstaunlicher ist es, dass die politische Elite es immer noch nicht begriffen hat warum die Menschen auf die Straße gehen.

„Wir haben den Protest unterschätzt”

Auslöser war die [mittlerweile zurückgenommene] Ernennung eines sehr umstrittenen Abgeordneten, Deelian Peevski, zum Geheimdienstchef. „Wir haben das Image, das dieser Mann in der Öffentlichkeit genießt, unterschätzt“ sagte Ministerpräsident Plamen Orescharski (der „parteilose“ Kandidat der Sozialistischen Partei, dessen Regierung von der muslimischen Partei MRF und der rechtsextremen Ataka unterstützt wird). „Wir haben den Widerstand unterschätzt, den diese Ernennung hervorrufen würde“, setzte der Parteichef der Sozialisten Sergei Stanischew noch einen drauf. Für ihn ist das Problem nicht der Kandidat, sondern dessen — angeblich falsches —Image. So spricht eben die Schatten-Oligarchie. „Wir hatten das Ausmaß des Protests unterschätzt, wir hatten ein paar Hundert Demonstranten erwartet und nun ufert alles aus.“

Würden Banker Bücher lesen, sähen die Krisen heute anders aus, da Bücher es ihnen erlaubt hätten, ein gewisses Maß an Feingefühl zu entwickeln. Doch Bücher wie Feingefühl sind nicht ihr Ding. Die Regierung hat nicht begriffen, dass die Wirtschaftskrise nur der sichtbare Teil einer tiefer sitzenden, persönlicheren Krise ist — eine Sinnkrise, eine fehlende Zukunft. Was Experten sagen, ist ja schön und gut, doch sollte ihre Expertise immer nach der Moral kommen. Und die Ökonomie immer nach der Ethik. Ein Experte ohne Moral wird immer das Instrument dessen sein, der seine Dienstleistung bezahlt, ein Instrument im Dienste der Oligarchie — welcher auch immer.

Die ersten Tage des Protests sind immer die schönsten, so unerwartet. Wir müssen aufpassen, dass die Demonstrationen nicht von Nationalisten oder Randalierern vereinnahmt, missbraucht und manipuliert werden. Ich hoffe innig, dass dieser Protest die Kraft findet, sein Gesicht zu wahren: Mit Eltern, die ihre Kinder auf den Schultern tragen, mit lächelnden Gesichtern und ruhiger Wut. Mit diesem Gefühl — endlich! — einer Wertegemeinschaft anzugehören. Denn der protestierende Mensch ist wirklich schön. Und vernünftig.

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