Deutscher Tourist in Deerfield Beach im Süden Floridas, USA.

Der Deutsche ist kein Arbeitstier mehr

Viele Länder, allen voran Großbritannien, sehen zu den Deutschen als einem hart arbeitenden Volk auf. Doch solche Eigenschaften gehören schon lange der Vergangenheit an, schreibt der Guardian.

Veröffentlicht am 21 März 2012 um 16:31
Deutscher Tourist in Deerfield Beach im Süden Floridas, USA.

Fangen wir mit der guten Nachricht an: Die Briten haben anscheinend endlich den Krieg bewältigt. Eine YouGov-Umfrage, die letzte Woche veröffentlicht wurde, legt nahe, dass die Deutschen in der britischen Vorstellung immer seltener als böse Männer mit Marschstiefeln definiert werden.

Großbritannien mag der EU und Deutschlands Rolle darin immer noch überwiegend skeptisch gegenüberstehen, doch die Briten haben ein gewisses Faible dafür entwickelt, wie die Deutschen ihr Land führen – ihre Politiker, Banken, Schulen und Krankenhäuser wurden alle höher bewertet als die britischen Entsprechungen. In der Rangliste der Länder, die man in Großbritannien bewundert, kommt Deutschland sogar an zweiter Stelle: vor den USA und nach Schweden.

Das herausragende Adjektiv, das die Briten heute mit Deutschland assoziieren, ist „fleißig“: Das ist ironisch, war doch der frenetische Arbeitsrhythmus früher der Grund, warum die Leute das Land nicht leiden konnten. 1906 erklärte der Soziologe Max Scheler die internationale Abneigung gegenüber seinen Landsleuten durch ihre „pure Freude an grenzenloser Arbeit an sich – ohne Ziel, ohne Zweck, ohne Ende“. Ungefähr zeitgleich prägte sein Kollege Max Weber den Begriff der „protestantischen Arbeitsethik“, um die quasi religiöse Aura zu betonen, von der die Arbeit in seiner Heimat umgeben war.

Das Land redet wochenlang über Burnout

Heute verspricht Deutschland, dieses Ideal mehr denn je zu verkörpern. Seit Sonntag sind die zwei höchsten Ämter des Landes von Menschen aus protestantischem Hause besetzt: Angela Merkel ist die Tochter eines evangelischen Pfarrers, der neue Bundespräsident Joachim Gauck war selbst als lutherischer Pastor tätig.

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Doch jetzt kommt die schlechte Nachricht: Nachdem sich die Briten einer Sicht Deutschlands entledigt haben, die schon seit über 50 Jahren veraltet ist, scheinen sie sich ein noch älteres Stereotyp angeeignet zu haben. In Wahrheit sind die Deutschen nicht fleißiger als die Briten. Im Gegenteil, sie arbeiten sogar immer weniger.

In einem EU-Bericht von 2010 über die Anzahl von Urlaubstagen erzielte Deutschland den ersten Platz, mit 40 Tagen pro Jahr – im Vergleich zu 33 im „arbeitsscheuen“ Griechenland. Im Zeitalter der flexiblen Arbeitszeiten und der ständig blinkenden BlackBerrys lassen sich exakte Arbeitsstunden bekanntermaßen kaum genau bestimmen, doch in keiner der neueren Untersuchungen kommt Deutschland vor Großbritannien. Britische Büroangestellte arbeiten 43,6 Stunden pro Woche, während der EU-Durchschnitt bei 40,3 Stunden liegt.

Unbemerkt von den britischen Medien fand in Deutschland kürzlich eine landesweite Debatte über das Burnout-Syndrom oder die arbeitsbedingte Erschöpfung statt. In den vergangenen sechs Jahren traten führende Politiker, Chefköche und Fußballtrainer wegen Stress von ihren Ämtern zurück. Auf ihrer jährlichen Tagung letzten Monat klagten sogar die katholischen Bischöfe des Landes über berufliche Ermüdung – man fragt sich, was Weber davon gehalten hätte.

Der Arbeit Sinn verleihen

Eine Ermittlung ergab vor kurzem, dass wenige Psychiater den Burnout aus medizinischer Sicht tatsächlich definieren konnten, doch das macht ihn nicht zum Symptom einer typisch deutschen Existenzangst. Es bedeutet vielleicht nur, dass Deutschland zukunftsorientierter ist, wenn es um den Sinn der Arbeit im kabellosen 21. Jahrhundert geht. Im Hamsterrad Großbritannien tat es die Presse spöttelnd als „geheimnisvolle Krankheit“ ab, als sich Lloyds’ Vorstandsvorsitzender, Antonio Horta-Orsario, wegen Erschöpfung sechs Wochen beurlauben ließ.

Vielleicht sollte man überlegen, ob es so etwas wie eine typisch deutsche Arbeitsauffassung überhaupt gibt. Die neue Chronik von Harold James über den preußischen Stahl- und Waffenhersteller Krupp zitiert den Firmengründer und deutet an, dass es bei der protestantischen Arbeitsethik vielleicht weniger um lange Bürostunden geht als vielmehr darum, der Arbeit Sinn zu verleihen: „Der Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein“, sagte Alfred Krupp, „dann bringt Arbeit Segen, dann ist Arbeit Gebet.“ Volkswagens jüngster Entschluss, die Firmenhandys der Angestellten außerhalb der Arbeitszeiten zu deaktivieren, ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass dieses Ideal noch nicht ganz erloschen ist.

Könnte es sein, dass die neue britische Liebe zum „fleißigen“ Deutschland mehr über die britische Angst als über die deutsche Leistung aussagt? Wenn die Deutschen mäßig viele Stunden arbeiten, sich dabei gut amüsieren und es immer noch fertig bringen, Europas erfolgreichste Wirtschaftsmacht zu sein, warum arbeiten dann die Leute in Großbritannien so verdammt hart?

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