Kopftuchladen in Molenbeek (Brüssel). Photo: Quarsan

Der Islamisierungs-Mythos

Infolge der Bombenanschläge in London und Madrid grassierten Vorhersagen in der Presse und im Internet, der Islam trete nun in eine radikale und gewalttätige Phase ein. Die schlimmen Prognosen einer bevorstehenden "Islamisierung" Europas haben sich als wenig begründet erwiesen, berichtet der Observer.

Veröffentlicht am 28 Juli 2009 um 14:43
Kopftuchladen in Molenbeek (Brüssel). Photo: Quarsan

Für die Rechtsextremen und die anti-islamistischen Blogger ist der Brüsseler Stadtteil Molenbeek, der aufgrund seiner überwältigend muslimischen und nordafrikanischen Bevölkerung auch als "Klein-Marokko" bekannt ist, ein alptraumhafter Vorausblick auf die Zukunft: ein Brutkasten für Spannungen und Terrorismus in der Hauptstadt Europas, ein Teil der "Islamisierungswelle", die angeblich den Kontinent überrollt.

Die pessimistischen Vorhersagen eines religions- und identitätsbegründeten Chaos erreichten ihren Höhepunkt zwischen 2004 und 2006, als in Madrid und London Bomben hochgingen, in Amsterdam ein umstrittener Filmregisseur erstochen wurde und wütende Demonstranten gegen die Veröffentlichung von satirischen Comicstrips über den Propheten Mohammed marschierten.

Für Bruce Bawer, den Autor von "While Europe Slept", bestand die Zukunft des Kontinents darin, "sich gefügig in einen graduellen Übergang zur absoluten Shari’a einzufinden". Bis Ende des Jahrhunderts, so prophezeite der berühmte amerikanische Islamhistoriker Bernard Lewis, "wird Europa islamisch sein". Die Daily Mail beschrieb die Unruhen, die Frankreich im Jahr 2005 erschütterten, als "eine muslimische Intifada".

Keine Massenradikalisierung

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Ein paar Jahre später wirken derartige Ängste deplaziert. Eine neue Meinungsumfrage von Gallup zeigt, dass die befürchtete Massenradikalisierung der rund 20 Millionen Muslime in der EU nicht stattgefunden hat. Auf die Frage, ob gewalttätige Angriffe auf Zivilisten gerechtfertigt werden könnten, antworteten 82% der französischen und 91% der deutschen Muslime mit "nein". Der Prozentsatz, der angab, für einen "edlen Zweck" dürfe Gewalt eingesetzt werden, entsprach im Großen und Ganzen demjenigen der allgemeinen Bevölkerung. Entscheidend auch: Die Antworten waren nicht von der Religionsausübung abhängig.

Doch Umfragen fallen immer unterschiedlich aus, und da gibt es auch noch das wiederholt angebrachte Argument, dass "für einen Bombenanschlag nur ein halbes Dutzend Leute" nötig sind. Nichtsdestoweniger herrscht sogar unter Europas Antiterror-Strategen das Gefühl, dass die Radikalisierung junger Muslime abebbt.

"Wir schätzen, dass circa 10 Prozent unserer islamischen Bevölkerung dem Westen und Europa gegenüber eine ablehnende Haltung einnehmen, 10 Prozent sind europäischer als die Europäer, und etwa 80 Prozent sind irgendwo dazwischen, und versuchen nur, über die Runden zu kommen", erklärt Alain Bauer, Kriminologe und Sicherheitsberater des Präsidenten Nicolas Sarkozy.

Letzte Woche wurde die Bedrohungslage in Großbritannien von "schwer" (ein Angriff ist sehr wahrscheinlich) auf "substanziell" (ein Angriff ist schwer möglich) heruntergestuft – ihre niedrigste Stufe seit dem 11. September 2001. In den Niederlanden wurde die Bedrohungslage letztes Jahr auf die zweithöchste Stufe angehoben – zum Teil wegen des Einflusses muslimischer Gemeinschaften auf den Erfolg des anti-islamischen Politikers Geert Wilders. Doch sogar hier sind die Sicherheitsdienste der Meinung, dass "die Aktivitäten von [militanten] Zellen aus der Mitte der Gesellschaft stabil oder abnehmend sind, aufgrund mangelnder Führung und interner Streitigkeiten".

"Das Problem wird übertrieben"

Im Brüsseler Stadtteil Molenbeek hat Sebastiano Guzzone ebenfalls Veränderungen festgestellt. Innerhalb seiner acht Jahre als Rechtsberater der Anwohner ist er belgischen Marokkanern begegnet, von denen angenommen wurde, dass sie aus terroristischen Trainingslagern in afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten kamen, sowie einen Nordafrikaner, der in den Irak verschwand, um dort als Selbstmordattentäter zu sterben. Die Zeiten sind vorbei.

"Ich habe jetzt schon seit ein paar Jahren niemanden dieser Art gesehen", sagt Guzzone. "Das letzte Mal, dass ich mit einem muslimischen Fundamentalisten zu tun hatte, war 2006. Es gibt immer weniger von ihnen. Das Problem wird übertrieben."

Für Kamel Bechik, der im Südwesten Frankreichs einen muslimischen Pfadfinderverein leitet, bei welchem die Jugendlichen morgens und abends stolz vor der Nationalflagge salutieren – und zugleich während des heiligen Ramadan-Monats fasten, wenn sie das möchten –, spricht die Geschichte für sich selbst. "Es gibt bei uns sechs Millionen Muslime", sagt Bechik. "Wenn die Gemeinschaft sich tatsächlich radikalisiert hätte, dann würde man das ja wohl merken."

Die Einhaltung der Religion ist ebenfalls höchst unterschiedlich. Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Umfrage bei deutschen Muslimen befand, dass nur 10 Prozent der Immigranten aus Südosteuropa jeden Tag beten, dafür aber mehr als die Hälfte der Einwanderer aus Nordafrika. In Frankreich führten ähnlich verschiedene Ansichten zu einer Auseinandersetzung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft, als die Regierung ankündigte, sie wolle die Burka verbieten.

Vom Wohnland tief beeinflusst

Schließlich ist da auch die Frage, was Integration nun eigentlich bedeutet. Die Gallup-Umfrage stellte fest, dass europäische muslimische Zuwanderer dazu tendieren, sozialökonomische Themen als Zeichen der Integration zu betonen – Wohnung, Arbeit, Zugang zur Schulbildung –, während die so genannten "Gastgemeinschaften" eher die Sitten und Bräuche betonen, wie z.B. die Einstellung zur Homosexualität, zum vorehelichen Sex oder zur Pornographie.

Trotz der stark propagierten Auseinandersetzungen fand man bei Meinungsumfragen heraus, dass sich nur eine Minderheit der europäischen Musliminnen verschleiert und diese Zahlen wahrscheinlich rückläufig sind. Deutsche Daten deuten darauf hin, dass zwar ein Viertel der Immigrantinnen der ersten Generation das Kopftuch trägt, doch nur 18 Prozent ihrer Töchter.

Es gibt auch subtilere Wege der Integration. Umfragen zufolge werden muslimische Gemeinschaften durch ihr jeweiliges Wohnland tief beeinflusst. So gaben in Frankreich 45 Prozent der Befragten an, Ehebruch sei moralisch vertretbar, und ein hoher Prozentsatz der ansässigen Muslime befand dasselbe. In Deutschland, wo 73 Prozent der Bevölkerung sich gegen die Todestrafe aussprachen, wurde diese Ansicht vom selben Prozentsatz der ansässigen Muslime geteilt.

Mit der Zeit vertieft sich diese Tendenz. Eine Veröffentlichung eines niederländischen Statikstikbüros zum Thema Integration berichtet, dass die [niederländischen Migranten] der zweiten Generation bezüglich Normen, Ansichten und Verhaltensweisen viel mehr auf die niederländische Gesellschaft ausgerichtet sind als ihre Eltern.

Eines der heikleren Themen ist die Demografie. Niemand bezweifelt, das muslimische Bevölkerungen in den letzten Jahrzehnten schnell gewachsen sind. Doch obwohl die Demografen für Europas kinderreiche muslimische Gemeinschaften weiteres Wachstum voraussagen, prognostizieren sie auch einen Rückgang der Geburtenraten – wie für alle Bevölkerungsgruppen, die ein höheres Niveau an Wohlstand, Gesundheitspflege und Bildung erreichen. Carl Haub, Senior Demographer beim Population Reference Bureau in Washington, weist in diesem Zusammenhang auf die Geburtenraten in mehrheitlich muslimischen Ländern wie Tunesien, der Türkei, Algerien und Marokko hin, die nur geringfügig höher sind als diejenigen in Großbritannien oder Frankreich. Die Behauptung, die EU werde in den nächsten 50 Jahren mehrheitlich muslimisch sein, ist seiner Meinung nach "einfach albern".

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