Es ist eine Binsenweisheit für jeden, der einmal im Journalismus gearbeitet hat: Die meisten Interviews oder Ereignisse verlaufen genauso wie erwartet. Doch manchmal nimmt das Gespräch einen unerwarteten Verlauf und etwas ganz Anderes kommt heraus.
Budapest ist nicht das schwarze Schaf
So war es auch bei meinem Interview mit dem berühmten ungarischen Wirtschaftswissenschaftler András Inotai, dem Direktor des Instituts für Weltwirtschaft an der ungarischen Akademie der Wissenschaften. Ich wollte wissen, wie schlimm die derzeitige Krise in Ungarn sei. Er antwortete, dass das Bild eines Landes mit unlösbaren Problemen sehr zweifelhaft sei. Es ging ihm dabei bestimmt nicht darum, die Krise und die Probleme des Forint zu leugnen, oder die Tatsache, dass ohne die Hilfe des Internationalen Währungsfonds Ende 2008 das Land zweifellos pleite gegangen wäre. Mehrmals im Laufe des Gesprächs betonte er: "Man ging davon aus, dass Ungarn zum Paradebeispiel der Wirtschaftskatastrophe werden würde, zum schwarzen Schaf Osteuropas. Das ist aber ganz eindeutig nicht der Fall." Mit handfesten Zahlen ließ er mich verstehen, dass in allen osteuropäischen Ländern (mit der beachtenswerten Ausnahme Polens, das von der Krise verschont blieb) die Wirtschaft zusammengebrochen sei, dass die ungarischen Staatsschulden im europäischen Vergleich nicht so außergewöhnlich hoch seien, dass der Forint nicht schwächer sei als die tschechische Krone oder der polnische Zloty und die Arbeitslosigkeit in Ungarn niedriger als in der Slowakei oder in Polen.
Wahlkatastrophe? Nicht eingetreten.
Am Montagmorgen dem 12. April, als ich in einem Warschauer Hotel die Ergebnisse des ersten Wahlgangs in Ungarn entdeckte, kam mir dieses unerwartet verlaufene Interview wieder in den Sinn. Der Wahlausgang hat mich nicht sehr überrascht, und von einer Katastrophe kann man auch nicht reden: Viktor Orbáns FIDESZ-Partei erreichte 53 Prozent der Stimmen. Schon nach dem ersten Wahlgang besitzt sie also eine knappe Mehrheit im Parlament. Doch sind wir noch weit von den erwarteten 60-70 Prozent entfernt.
Die Sozialisten, denen vorausgesagt wurde, dass sie von der Bildfläche verschwinden würden, kamen auf 20 Prozent der Stimmen. Ein sehr gutes Ergebnis. Die gewissenhafte Arbeit der sozialistischen Regierung unter Gordon Bajnai, zumindest im vergangenen Jahr, als er Ungarn über Finanz- und Wirtschaftskrise hinwegrettete, hat sich ausgezahlt. Ein Erfolg hinsichtlich der drastischen Sparmaßnahmen, die sich schmerzhaft im Geldbeutel der meisten Ungarn bemerkbar machten. Und nicht zu vergessen: Die Sozialisten werden die erste politische Kraft der Opposition. Die vermeintliche "Revolution" im politischen System Ungarns blieb aus.
Jobbiks Stimmenanteil stagniert
Wie erwartet kam die rechtsradikale, antisemitische und fremdenfeindliche Jobbik-Partei auf 15 Prozent. In der Tat ein beachtliches Resultat. Doch im Vergleich zu den Wahlergebnissen extremistischer Gruppen in anderen Ländern Osteuropas oder der EU ist daran nichts ungewöhnlich Schockierendes. Wenn man die knifflige Lage Ungarns betrachtet, sind diese 15 Prozent kaum ein Grund zur Sorge. Sie entsprechen dem Wahlergebnis der Jobbik bei den Europa-Wahlen vom letzten Jahr, was beweist, dass der Rechtsextremismus in Ungarn stagniert. Bevor die Tschechen Ungarn zu einem Staat auf dem Weg in den Faschismus erklären, sollten sie nicht Wahlerfolge der Kommunisten daheim seit zwanzig Jahren vergessen. Die Kommunisten stellen, genauso wie die Jobbik, eine Gefahr für die Demokratie dar. Und zu guter Letzt eine — möglicherweise — gute Nachricht: die links-ökologische Partei "Politik kann anders sein", die man als Nachfolger der Liberalen oder des Ungarischen Demokratischen Forums betrachten kann, schaffte mit sieben Prozent den Sprung ins Parlament.
Der zweite Wahldurchgang kann noch ein paar Veränderungen bringen. Er wird voraussichtlich die FIDESZ noch stärken. Aber eins ist sicher: Es wird keine Katastrophe geben. Ungarn gehört nach wie vor zu Osteuropa. (js)
Aus deutscher Sicht
Europa muss Ungarns völkische Rechte stoppen

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