Nachrichten Griechenlands Wahlen aus Athener Sicht /1

Die Angst wählt mit

Griechenland liegt politisch und wirtschaftlich am Boden. Sonntag soll gewählt werden. In der katastrophalen Stimmung im Land sehen Meinungsforscher Wähler massenweise von einer Partei zu nächsten irren.

Veröffentlicht am 11 Juni 2012 um 16:01

Es sind äußerst kritische Wahlen. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenbruchs geht Griechenland am kommenden Sonntag, den 17. Juni an die Urnen. Während gewalttätige Ausschreitungen in Gesellschaft und Politik die Lage noch verschärfen, bilden die Wirtschaftsdaten den erdrückenden Rahmen, in dem die Regierung, die aus dem Urnengang hervorgehen wird, funktionieren muss.

Das Land befindet sich im Grunde in einem Zustand internationaler wirtschaftlicher Isolation. Die großen Versicherungshäuser haben ihre Leistungen für die Einfuhren nach Griechenland eingestellt, während die Unternehmen enormem Druck ausgesetzt sind, weil sie ihre Einfuhren bar bezahlen müssen.

Die Gefahr eines Mangels an Rohstoffen, Arznei- und sogar Lebensmitteln ist bereits spürbar. Es braucht schnelle Maßnahmen zur Problembekämpfung. Wirtschaftsvertreter sprechen bereits von einem „Albtraum, der an Albanien unter Chotsa“ erinnert, sollte sich keine Lösung finden. Auf die griechischen Betriebe kommen enorme Probleme wegen des Rohstoffmangels zu, da ihre Produktion von den Einfuhren abhängt. Und im Energiebereich steht das Land kurz vor dem Abgrund, weil keine Kredite mehr vergeben werden. Und Griechenland läuft Gefahr wegen des internationalen Embargos gegen Teheran nicht einmal Zugang zum iranischen Markt zu haben.

Gleichzeitig halten internationale Akteure aus Wirtschaft und Politik den Austritt des Landes aus der Eurozone für immer wahrscheinlicher, und die Isolierung zeigt sich auch bei den immer öfter auf Eis gelegten Handelsgeschäften und Abkommen in Tourismus, Handel und Transport. Im selben Moment treffen die multinationalen Unternehmen, die noch im Land tätig sind, ihre Maßnahmen und stellen nur sehr geringe liquide Mittel zur Verfügung.

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Die „Stimme des Zorns“ verstummt

Vor diesem Hintergrund und angesichts der zugespitzten Lage in Gesellschaft und Politik – man denke an die Gewaltakte unter Politikern, die vergangenen Donnerstag in einer TV-Direktübertragung zu sehen waren, oder den Fall der Selbstjustiz in Paiana [wo ein Fünfzehnjähriger einen Einbrecher tötete, um seine Familie zu schützen] – weisen politischen Analysten und Meinungsforscher entschieden darauf hin: Kommenden Sonntag wird die „Stimme der Angst“ vorherrschen und die „Stimme des Zorns“ wird zurückweichen.

Die meisten Meinungsforscher haben bereits Daten darüber, wohin die Wähler am 17. Juni tendieren werden. Es bleiben aber Bedenken darüber, inwiefern die Attacke des Kaders der Partei Goldene Morgenröte auf [die kommunistische Abgeordnete] Liana Kanelli eine katalytische Wirkung auf das Ergebnis haben wird. Dabei schließen sie nicht aus, dass sich Vorfälle wie am letzten Donnerstag oder ähnliche, die vielleicht folgen werden, eventuell als „Pinselstriche“ für die Gestaltung des Endbildes erweisen werden.

Ein Analyst, Mitarbeiter einer der einst großen Regierungsparteien, bemerkt, dass eines der bereits identifizierten Wesensmerkmale der Wahl am nächsten Sonntag eine Veränderung der Art der Stimme ist. „Die Wahlen vom 6. Mai waren Wahlen des Zorns. Die kommenden Wahlen des 17. Juni werden Wahlen der Angst sein“, sagt er.

In diesem Sinne werde es zu einer Stärkung der so genannten systemischen Stimme [für die Pro-Spar-Memorandum-Parteien] kommen, bei einer gleichzeitigen Abnahme der entsprechenden antisystemischen Stimme. Er verbindet zwei Merkmale, die noch zu bestätigen sind.

Erstens könnten einige Wähler, die „naiverweise“ für die Goldene Morgenröte gestimmt haben, an konventionellere Optionen abwandern, entweder zu theoretisch konservativeren oder, im Sinne einer Gegen-Reaktion zum [Spar-]Memorandum, zum Syriza-Bündnis. Gleichzeitig hält er es für möglich, dass weitere Verluste der Kommunistischen Partei an Syriza verhindert werden können.

Zweitens sei es wahrscheinlich, dass die antisystemische Stimme bei den Wählerbewegungen zwischen der Goldenen Morgenröte und den Unabhängigen Griechen zurückgehen wird. Betroffen sind vor allem die Wählergruppen, die auf gar keinen Fall linke oder Mitte-Links-Formationen wählen werden.

Kommen die Kleinen ins Parlament?

Der Leiter eines der größten Meinungsumfrageinstitute äußert gleichzeitig ernsthafte Bedenken, ob die Ereignisse der letzten Woche überhaupt einen nennenswerte katalytische Wirkung haben werden. Denn im Vergleich zu ihren (fast) 7 Prozent vom 6. Mai verzeichnet die Goldene Morgenröte bereits einen Rückgang der Stimmen. Demnach kann die einzig mögliche katalytische Wirkung nur die Frage betreffen, ob die neofaschistische Formation ihre Stellung im Parlament behaupten kann, oder ob sie so große Verluste hinnehmen muss, dass sie draußen bleibt.

Nach der vorherrschenden Einschätzung der Analysten und Meinungsforscher wird es kommenden Sonntag zu einem größeren Zusammenschluss der „konventionelleren politischen Kräfte“ kommen, zu denen sie auch die Syriza zählen. Sie ist nun Teil des politischen Dipols, der sich im Land herausbildet.

Alle Meinungsforscher sind sich zudem einig, dass die Zeichen politischen Zerfalls höchstwahrscheinlich den dominanten Parteien der letzten Wahl noch mehr Zulauf bringen werden, während parallel ein „Wähler-Austausch“ zwischen kleineren oder extremistischen Parteien stattfinden wird. Die Folge wird wahrscheinlich sein, dass einige von ihnen nur schwer ins nächste Parlament kommen.

Wie bedeutenderweise einer der oben genannten Analysten sagt: „Bis zum Donnerstag dachten wir, dass die vielleicht verletzlichere Partei die der Unabhängigen Griechen sei. Als gleichermaßen verletzlich müssen wir jetzt aber auch die Goldene Morgenröte betrachten, deren Wähler ohnehin weniger homogene Merkmale haben.“

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