Nachrichten ZEHN STIMMEN ZU EUROPA | 7

Die Burka meiner Tochter

In allerlei Zeitschriften ist zu lesen, dass Frauen die Zukunft Europas seien. Doch muss der- oder diejenige, der (die) diese Zukunft beschreiben will schon über hellseherische Eigenschaften verfügen. Die tschechische Schriftstellerin Petra Hůlová zeichnet ein tragisch-komisches Zukunftsbild.

Veröffentlicht am 30 Dezember 2010 um 08:00

„Sie übt schon das Anziehen der Burka“, sagt mein Mann und zeigt lächelnd auf unsere sechsmonatige Kleine, die instinktiv ihr Deckchen bis zu den Augen hochzieht. Wir scherzen mit unseren Kindern gern über die Zukunft Europas. Wir stellen uns vor, wie diese aussehen könnte. Wenn Internet zum Symbol einer vergangenen Ära geworden sein wird wie heute Telegramm oder Fax, dann werden wir uns schieflachen, als sähen wir uns einen Science-Fiction-Schinken aus der Zeit des Stummfils an. Dennoch. Wir können nicht anders. Wir stellen uns die Zukunft vor.

Einfach ausprobieren. Und stimmt es nicht, dass von jedem verantwortungsbewussten Europäer verlangt wird, sich auf die Zukunft vorzubereiten? Er ist sich gewiss, dass er nicht einem primitiven Volk angehört, dass er kein in den Tag lebender Fatalist ist, auch wenn ein Mensch ohne Internet, Fahrrad oder Klospülung an sich kein niedrigeres Wesen ist. Das Gleiche gilt für das Burkatragen. Nur, dass wir in Europa nicht gerade Islam-Fans sind. Von denen wimmelt es aber im Internet. Dort fühlen sie sich wie ein Fisch im Wasser, oft besser als in ihrem Geburtsland, in ihrer Heimat Frankreich oder Deutschland.

Momentan wird lebhaft über Muslime und Europa debattiert. Selbst in meiner tschechischen Heimat, wo man eigentlich kaum welche in den Städten antrifft. „Egal!“, wettern manche rechtskonservative Streithähne. „Die sollen alle zum Teufel gehen.“ In meiner Heimat, greift man dann auch mangels Muslimen lieber erst einmal die Roma, Vietnamesen und in vielerlei Hinsicht die Frauen an.

Gehört Europas Zukunft den Frauen?

Selbst in den biedersten Zeitschriften voll schöner Fotos über Haus und Garten, schreibt man, dass Europas Zukunft den Frauen gehört. Diese Behauptung hat also nichts Extravagantes, und jene, die sich dieser Idee sträuben, gehören entweder zu den notorischen Frauenhassern oder zu jenen, die den Europäerinnen eine Zukunft unter der Burka wünschen in der Vorstellung, dass Letztere so gekleidet nicht werden mitreden können.

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Der Europäer sei am Aussterben, langsam aber sicher. Und glaubt man manchem, dann liegt die Schuld genau bei jenen emanzipierten Frauen, die doch Europas Zukunft darstellen. Je besser sie ausgebildet sind, je mehr sie verdienen, umso weniger Kinder bekommen sie, die Schlampen! Ein paar Feministinnen meinen, die Männer seien selber schuld. Sie hätten doch die Pille erfunden, um ungezwungen, sprich ohne Schwangerschaftsrisiko, herummachen zu können. Doch würde eine Rückkehr zum Kondom das Blatt wenden? Wohl kaum.

Wenn ich meine Kleine unter ihrem Deckchen betrachte, aus der nur die Augen und das kahle Köpfchen hervorlugen, dann stell ich mir vor, was aus uns zwei Europäerinnen in 30 oder 40 Jahren wird. Ich werde dann zum Heer der nervigen Rentnerinnen gehören. Wir verbitterten Alten gehen massenhaft auf die Straße und nörgeln, wie viel besser es früher war, wie eben alle rückwärtsgewandten Alten, die sich ihre Jugend zurücksehnen. Ein wenig senil und desillusioniert bin ich wie meine Altersgenossinnen gegen die vierte Generation der E-Books, jene, die man dann wie einen Geldschein zusammenfalten und in die Hosentasche stecken kann und gegen die zwölfte Handy-Generation, obwohl ich meins für den Fall eines Anrufs meiner Enkelkinder nie ausschalte. Meine Tochter braust währenddessen mit 500 Kilometer pro Stunde über virtuelle Autobahnen. Bei offenem Fenster flattert ihre Burka elegant im Wind. Und die Frauen auf der Autobahn sehen alle gleich aus.

Wir Tschechen sind allergisch auf Ermahnungen

Die Europäerinnen des Jahres 2040 werden wieder einmal (wie oft haben sie es schon tun müssen!) für ihre Rechte kämpfen. Natürlich nur, wenn wir bis dahin durchhalten. Ich stelle mit kein Europa der Regionen vor, denke nicht an die Gemeinschaftswährung oder an eine europäische Idee, ich denke viel mehr an Städte, Bauwerke und Menschen. Wie an einen Katastrophenfilm. Ich stelle mir einen ökologischen Super-GAU vor, den Zusammenbruch des Internets, die Ausbreitung einer neuen Epidemie. Verglichen mit solchen möglichen Katastrophen erscheint mir das eventuelle Aussterben der Europäer oder eine muslimische Mehrheit auf dem Kontinent geradezu harmlos. Und wenn die Frauen wieder an den Herd müssen, wäre das so schlimm auch wieder nicht. Ehrlich gesagt, braucht es nur sehr wenig, um diese düsteren Zukunftsvisionen abzuwehren: Mehr Kinder und weniger Verschwendung.

Ich schaue auf meine Kleine, die neben mir liegt und es wird mir bewusst, dass ich es bin, die in ein paar Jahren sagen wird „tu dies und das“ und sie wird mich dann finster ansehen. „Du schreibst mit vor, was ich tun soll?“ Es ist immer das gleiche. Ermahnungen nerven. Wir Tschechen sind in der Hinsicht nach vierzig Jahren Kommunismus besonders allergisch. Aber heute Zukunftsszenarien entwickeln? Bloß nicht! Nur vielleicht in einem Internetforum oder während einer Podiumsdiskussion, wo man ganz unverbindlich drauflos plaudert. Punkt. Im übrigen, hat uns die Geschichte nicht gelehrt, dass Dinge immer anders ausgehen als vorausgesagt? Klar. Na, das ist doch mal ein versöhnliches Schlusswort. Doch wer glaubt das wirklich? (js)

In Zusammenarbeit mit Spiegel-Online

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