Rosarno (Italien), 9. Januar 2010. "Schießen Sie nicht auf Schwarze", ein Tag nach den Unruhen in der kalabrischen Stadt. (AFP)

Die Früchte des Zorns sind reif

Während der Unruhen in der kalabrischen Ebene von Gioia Tauro wurden zwei afrikanische Erntehelfer von Karabinerschüssen getroffen. Seither beobachtet man aufmerksam die Arbeits- und Lebensbedingungen der illegalen Einwanderer, die nun dazu gezwungen wurden, die Stadt zu verlassen. In Rosarno und anderenorts sind sie jedoch oft die einzigen, die sich gegen die Mafias auflehnen, schreibt Barbara Spinelli.

Veröffentlicht am 11 Januar 2010 um 17:28
Rosarno (Italien), 9. Januar 2010. "Schießen Sie nicht auf Schwarze", ein Tag nach den Unruhen in der kalabrischen Stadt. (AFP)

Schon jetzt lässt sich in der Ebene von Gioia Tauro erkennen, wie unsere Zukunft aussehen wird. In Rosarno in der Provinz Reggio di Calabria fand zwischen dem 7. und dem 10. Januar ein wahrhaftiger Guerillakrieg statt. Hier kristallisieren sich die hauptsächlichen Probleme der gesamten Menschheit: Ganze Bevölkerungsgruppen flüchten vor Armut und Krieg, Angst und Furch verderben das Leben von Einwanderern und Anwohnern, Menschen, die "anders" sind, werden gejagt, und eine weltweit expandierte Mafia beherrscht die Region. Hinzukommt, dass es unmöglich geworden ist, die Einwanderungswellen zu stoppen. Schließlich wollen weder Italiener noch die Bürger anderer wohlhabender Länder zu diesen Löhnen die Arbeit machen, welche die Afrikaner hier verrichten. Und letztendlich ist es doch absolut heuchlerisch zu glauben, dass eine von nur einer Kultur geprägte Identität die Antwort auf alle Probleme sein könnte.

In Rosarno kämpfen die Farbigen gegen die von Bewohnern organisierten Rundgänge an. Die kalabresische Mafia ’Ndrangheta hat sich unter sie gemischt und sie mit Waffen ausgestattet. Laut Innenministerium haben diese Aufstände nichts mit der Mafia zu tun, sondern mit der illegalen Einwanderung, die es auszurotten gilt. Dann könne man auch alle anderen Probleme beseitigen. Träumerei ist das. Schon seit mehreren Jahren versinkt Italien in seinem düsteren Ruf, der den Einwanderern Angst macht. Auf den Gipfel der Schamlosigkeit brachten es unsere Minister aber, als sie sich auf die Einwanderer-Unruhen in Spanien und Frankreich beriefen. So als könnten die Fehler anderer die unsrigen veredeln. So als gäbe es in Italien dieses zusätzliche Problem namens Mafia einfach gar nicht. Vielmehr sind die Unruhen der vergangenen Tage nämlich gleichzeitig Folge und Symptom staatlichen Scheiterns.

Die gegenwärtigen Revolten haben eine lange Geschichte. Die Einwanderer, die eben in Rosarno mit einer zerstörerischen Wut reagiert haben, waren dieselben, die sich schon im Dezember 2008 gegen die ’Ndrangheta auflehnten. Vier von ihnen wurden verletzt. Daraufhin taten die Afrikaner etwas, was die Italiener hier schon seit Jahren nicht mehr tun: Sie sind auf die Straße gegangen und haben den Staat zu mehr Gerechtigkeit und mehr Rechtmäßigkeit aufgefordert. Sie haben Mut bewiesen, den Anwälten bei ihren Ermittlungen geholfen und so unter großem Risiko die "omertà" gebrochen. Obwohl sie nicht einmal eine Aufenthaltserlaubnis besaßen, haben sie diejenigen offen angezeigt, die sie angriffen. Es scheint zu stimmen, was der Gomorrha-Autor Roberto Saviano schrieb: Dass die Afrikaner Rosarno retten werden, und vielleicht ganz Italien.

Die Gründe des Zorns

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Vor über einem Jahr provozierten die Afrikaner von Castel Volturno Unruhen, nachdem eine Gruppe verschiedener Mitglieder der Camorra, der neapolitanischen Mafia, sechs von ihnen kaltblütig ermordet hatte. Was sich anschließend ereignet hat gleicht einem Desaster – und war vorhersehbar. Um sich das Ganze bewusst zu machen, reicht ein Blick auf die Lebensbedingungen der Afrikaner. Auch die Antimafia-Organisationen prangern diese an. Die Videos von "Ärzte ohne Grenzen" sprechen von einer humanitären Krise in der Ebene von Gioia Tauro. Das Leben der Afrikaner in den verlassenen Industriegebäuden kann auch kaum mit anderen Worten beschrieben werden. Um sie herum: Feuer und Berge von Müll. Schutz bieten ihnen Kartons oder Zelte ohne jegliche Sanitäreinrichtungen. Es sieht hier aus wie im Gazastreifen oder den Elendsvierteln Pakistans.

Zu behaupten, dass es sich hierbei um das Ergebnis übertriebener Toleranz gegenüber illegalen Einwanderern handelt, ist eine Lüge. Wir haben die Afrikaner hierhergeholt, damit sie Orangen auflesen. Wir wussten, dass keiner von uns dies so viele Stunden täglich für einen solchen Lohn tun würde (25 Euro für einen 16-18 Stunden-Tag, von denen fünf Euro an die Mafia-Vorarbeiter und Busfahrer gezahlt werden müssen).

Video von Ärzte ohne Grenzen, Dezember 2009 in Rosarno

Nachdem wir all das zugelassen haben und Millionen von Euro in die Region gepumpt haben, die anschließend in den Taschen der Mafiabosse oder fauler Politiker verschwanden, ist es wirklich alles andere als angebracht, nun fassungslos zu tun. Die Unruhen der vergangenen Tage sind wirklich keine Überraschung. Wenn man diese Afrikaner nicht als Menschen betrachtet und sie auch so behandelt, dann ist es tatsächlich unmöglich, dass nicht – wie in Steinbecks Früchten des Zorns – früher oder später eine Revolte ausbricht. Mit den sich verschlimmernden Klimakatastrophen werden immer mehr Menschen zur Abwanderung gezwungen sein. Großen Krisen muss man mit großem Ehrgeiz entgegentreten. Nur er kann neue Solidarität schaffen. Integration als ein Ganzes zu denken, bedeutet dann, sich schon heute auf die Zukunft vorzubereiten.

Man will uns einreden, dass wir unsere Identität verlieren, weil wir uns von unseren Wurzeln entfernen und von Menschen umgeben leben, die anders sind als wir, und die uns dazu zwingen, uns mit ihnen zu vermischen. Auch das ist eine Lüge. In Wirklichkeit haben wir uns schon verändert: Nicht, weil wir uns schon jetzt mit ihnen "vermischt" haben, sondern weil unsere Identität schon lange nicht mehr die ist, die sie einmal war – neugierig, gastfreundlich und offen –, als wir selbst noch massenweise emigrierten und mit der uns entgegengebrachten Gewalt fertig werden mussten. Die Identität, die wir verloren haben, können wir nur dann wiederfinden, wenn wir nicht Verrat an ihr begehen, indem wir eine falsche Identität erfinden. Wenn wir selbst erkennen, dass das Problem nicht die italienische Identität ist, sondern die der ganzen Menschheit.

Neue Einwanderer

Ein Afrikaner geht, ein Rumäne kommt

"Wer sich selbst von der Entwicklung des neuen sozialen Pulverfasses überzeugen möchte, das jeden Augenblick in Gioia Tauro explodieren könnte, der sollte einfach mal kurz dorthin reisen", schreibt La Stampa. Noch bevor alle afrikanischen Saisonarbeiter die Region verlassen konnten, hat sich schon eine andere Gemeinschaft ausländischer Erntehelfer niedergelassen: Rumänen und Bulgaren. Diese brauchen keine Aufenthaltsgenehmigung mehr, und die italienischen Arbeitgeber riskieren nur eine Geldstrafe für Schwarzarbeit und keine Anzeige wegen illegaler Einwanderung. "Sie fügen sich besser ein und haben schon damit begonnen, ihre Vorgänger zu ersetzen", vertraut ein Landwirt der Region der Zeitung an. Trotz des von der 'Ndrangheta erklärten Krieges sind die Einwanderer und ihre lächerlichen Gehälter für die angeschlagene Orangenwirtschaft unentbehrlich. Deren Gewinne nehmen jedes Jahr ab. Es ist sogar schon so, dass viele Bauern "die Ernten gar nicht mehr organisieren und sich damit zufriedengeben, die Fördergelder der Europäischen Union (800 bis 1200 Euro pro Hektar) einzustreichen. So sparen sie nämlich die Gehälter der afrikanischen Einwanderer ein."

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