Seit 50 Jahren pflegen die Berufsfischer des größten Sees Nordirlands sorgfältig ihre Fischbestände. Sie gründeten eine Kooperative, führten Fangquoten ein und setzten Fischbrut aus, während die Franzosen und Spanier die Fischbestände der Meere dezimierten. Und nun kommt eine Schwedin an und stellt sich einer Branche in den Weg, von der die gesamte Bevölkerung vor Ort lebt. Sie setzt alles daran, im Europäischen Parlament ein europaweites Fangverbot für Aal durchzusetzen.
300 Arbeitsplätze sind bedroht. Und die Fischer von Lough Neagh werden keine anderen Jobs finden.
Der Fischer Pat Close kommt sie in Begleitung eines Experten und mit wissenschaftlichen Berichten in der Tasche besuchen. Nur ein kleiner Aufschub? Vielleicht könnten sie im Gegenzug größere Mengen Fischbrut aussetzen? Nichts zu machen. Isabella Lövin bleibt hart.
Eine „etwas andere Abgeordnete”
„Alle wollen Ausnahmeregelungen und Subventionen. Dabei müssen sie vielmehr einen anderen Broterwerb finden. So einfach ist das.“ Man muss dazu sagen, dass hier eine etwas andere Abgeordnete am Werk ist. Da wo ihre Kollegen Fotos von ihren Heimatländern aufhängen, tapeziert Isabella Lövin ihr Büro mit Karten der Fanggebiete im Skagerrak [der Meerenge zwischen Norwegen und Dänemark] und Postern von Thunfischen.
Vor vier Jahren ist sie hier angekommen. Nicht als Vertreterin des schwedischen Volks, was immer auch auf ihrer Visitenkarte stehen mag, nein sie spricht im Namen von Anguilla, Gadus morhua, Salmo salar: Aal, Kabeljau und Lachs.
Niemand in ihrem Team wird glauben machen, dass sie sich um irgendetwas anderes kümmere. Steuern auf zyprische Finanzeinlagen? Sie folgt der Fraktion. Bankenunion? Ebenso. Andere Themen? Keine Zeit?
Isabella Lövins Geschichte ist bekannt. 2007 veröffentlicht die unbekannte Journalistin ein Buch mit Titel „Stilles Meer“ [„Tyst Hav“, Verlag Ordfront, Stockholm]. Wider Erwarten wird das kleine Opus über die Ausbeutung der Fischbestände zum Bestseller. Drei Preise heimst Isabella Lövin in Schweden ein: den Großen Journalistenpreis, den „Goldenen Spaten“ [für investigativen Journalismus] und die Auszeichnung als beste Umweltjournalistin des Jahres.
„Offensivste supranationale Politik“
Im Herbst 2008 bekommt sie ein Angebot, dass sie zunächst ablehnen will. Man bittet sie, einen Teil ihrer journalistischen Glaubwürdigkeit für einen unsicheren Listenplatz der Grünen [bei den Europawahlen in Schweden 2009] aufzugeben. Sie lässt sich überreden, und die Grünen erringen einen weiteren Sitz — und erleben eine blitzartige Metamorphose, die in der schwedischen Politik wohl beispiellos ist.
Stand die Partei im Jahr vor den Wahlen der EU noch kritisch gegenüber, so zählt sie nun eine Abgeordnete in ihren Reihen, die gleich nach Amtsantritt die wohl offensivste supranationale Politik betreibt, die in Brüssel anzufinden ist. Die Frage eines EU-Austritts scheint seit den letzten Wahlen mehr oder minder begraben. Es handelt sich in gewisser Weise um ein demokratisches Experiment. Die Wähler der Grünen haben einfach einen politischen Neuling ins Parlament geschickt, dessen einziger Auftrag ist, der Überfischung ein Ende zu setzen.
Kann sich das auszahlen?
Antwort im Juni, wenn die neue [Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik] (3382431) in Kraft treten soll. Um zu verstehen, worum es geht, muss man zunächst einmal beiseite legen, was man in der Schule gelernt hat, nämlich, dass das EU-Parlament faktisch ohne Macht ist. Denn in der Tat: Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verfügt das Europäische Parlament bei fast allen Themen über ein Mitspracherecht und hat selbst das Recht, Gesetzentwürfe abzulehnen.
Premiere im EU-Parlament
Eine erste Abstimmung gab es bereits, und die Abgeordneten hatten sich mit großer Mehrheit hinter die Position von Isabella Lövin gestellt. 502 gegen 137 Stimmen. Doch der Ministerrat — mit anderen Worten alle Fischereiminister der Union — folgte dem Votum nicht. Irland, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, präsentierte nun einen Kompromissvorschlag.
Heute muss Isabella Lövin darauf achten, dass ihre wackelige Allianz aus Sozialisten Südeuropas und Konservativen aus dem Norden hält, denn die Fischer quasi aller Mitgliedsländer — sprich aller Küstenländer — sind gegen die Reform und fordern Ausnahmeregelungen.
Isabella Lövin spricht von der „Fischerei-Lobby“. Andere würden vermutlich den Begriff „Kollektiv“ benutzen, um jene paar Tausend Menschen zu bezeichnen, deren Arbeitsplätze heute auf dem Spiel stehen. Welchen Namen man auch benutzen mag, das Thema ist offensichtlich ein Zankapfel. Selbst innerhalb der Grünen-Fraktion ist man sich nicht einig. Im Flur vor Isabella Lövins Büro erklärt ein baskischer Abgeordneter der Grünen, dass er gemäß den Weisungen der Fischereibranche seiner Region abstimmen werde.
Koryphäen der Fischereipolitik
Isabella Lövin nutzt ihre neue Position nach Kräften. Im Zeitraum von nur einem Mandat ist sie eine der drei Stimmen geworden, die in Sachen Fischereipolitik den Ton angeben. Sie, die Deutsche Ulrike Rodust, sowie EU-Fischereikommissarin Maria Damaki gelten als die Koryphäen der Fischereipolitik.
In Schweden schwänzt Isabella Lövin gern die langatmigen Meetings ihrer Fraktion, und sie reist auch nicht durch die Landschaft, um in den Wahlkreisen Hände zu schütteln. Ihr sind Debatten und Konferenzen in Europa und aller Welt lieber: Madrid, Hamburg, Lissabon, Nairobi, Dakar.
Ein demokratisches Experiment, das anscheinend Nachahmer findet. Doch ist es auch riskant, sowohl unabhängig als auch Spezialistin eines einzigen Themas zu sein. Wenige Politiker setzten sich derart harten Urteilen und Kritik aus wie Isabella Lövin. Hat sie ihr Ziel erreicht? Werden sich in Zukunft wieder mehr — oder doch weniger — Fische in den Meeren tummeln? Die endgültige Entscheidung wird noch vor dem Sommer fallen. Von ihr wird abhängen, wie es um die Zukunft der Fischbestände und um die Beurteilung von Isabella Lövin in den Geschichtsbüchern bestellt sein wird.
Interessiert Sie dieser Artikel?
Er ist dank der Unterstützung unserer Community frei zugänglich. Die Veröffentlichung und Übersetzung unserer Artikel kostet Geld. Um Sie weiterhin unabhängig informieren zu können, brauchen wir Ihre Unterstützung.
Abonnieren oder Spenden
Seit den 1980er Jahren und der Finanzialisierung der Wirtschaft haben uns die Akteure der Finanzwirtschaft gelehrt, dass sich hinter jeder Gesetzeslücke eine kurzfristige Gewinnmöglichkeit verbirgt. All das und mehr diskutieren wir mit unseren Investigativ-Journalisten Stefano Valentino und Giorgio Michalopoulos. Sie haben für Voxeurop die dunklen Seiten der grünen Finanzwelt aufgedeckt und wurden für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet.
Veranstaltung ansehen >