Opinion Die Meinung aus Kiew

So haben die Menschen in der Ukraine gelernt, mit dem drohenden russischen Einmarsch zu leben

Medien und Öffentlichkeit im Westen scheinen sich nur dann für die Ukraine zu interessieren, wenn das Säbelrasseln an der russischen Grenze so laut wird, dass sich die Diplomatie einschaltet. Aber die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine lernen nun schon seit sieben Jahren, mit der Aussicht auf einen Einmarsch Russlands zu leben, meint Journalistin Veronika Melkozerova aus Kiew.

Veröffentlicht am 24 Januar 2022 um 11:02

Morgens lese ich immer als erstes die neuesten Nachrichten auf meinem Telefon. Jeden Morgen sehe ich dort wieder eine neue unheilvolle Drohung darüber, dass Russland in mein Heimatland, die Ukraine, einmarschieren werde. 

Entweder verkündet der Kreml-Sprecher Dmitry Peskov, dass ein Nato-Beitritt der Ukraine den Tod Russlands bedeuten würde, oder der russische Präsident Vladimir Putin gibt bekannt, er beschütze, was er als historisches russisches Territorium betrachtet – auch wenn er in Wirklichkeit weiteres Hoheitsgebiet meines Landes besetzen würde. 

Es könnte aber auch der selbsternannte weißrussische Führer Alexander Lukaschenko sein – ein treuer Vasall des Kreml, der betont, er stünde an der Seite Russlands, wenn Putin in den Krieg ziehe. Eventuell ist es auch der tschetschenische Staatschef Ramzan Kadyrov, der proklamiert, er sei bereit, Kiew einzunehmen, wenn Putin dies befehle.

Kein guter Start in den Morgen, aber in der Ukraine leben wir seit Ende Oktober so. Damals begann Russland, Tausende Soldaten und Waffen an die Grenze zur Ukraine zu verlegen. Im Dezember meldete der ukrainische Sicherheits- und Verteidigungsrat, dass an der östlichen und nördlichen Grenze der Ukraine und auf der von Russland besetzten Krim 122.000 russische Soldaten aufmarschiert seien.

Schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres (das erste Mal war im April 2021) verlegen die Russen ihr Militär an unsere Grenzen. Diesmal ist anscheinend alles sehr ernst. Die Ukraine steht wieder im Rampenlicht der internationalen Medien. Nachrichten-Websites mehrerer Länder veröffentlichten furchteinflößende Prognosen darüber, wie Russland die Ukraine im Januar/Februar 2022 mit 175.000 schwer bewaffneten Soldaten und eventuell sogar Luftschlägen angreifen werde. Einige russische Propaganda-Nachrichtensender schürten die Angst und berichteten, wenn es das wolle, bräuchte Russland für den Einmarsch in die Ukraine nur wenige Minuten.

Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt sprachen mit oder ohne die Ukraine über die Ukraine und versuchten, den Kreml zu einem Rückzug und zu einer Rückkehr zur Diplomatie zu bewegen. Der Kreml erklärte offen, man werde nur mit den Vereinigten Staaten reden, und bot an, die beiden Supermächte sollten über die Zukunft der Ukraine entscheiden. Putin machte klar: Er will, dass die Ukraine ihr Staatsgebiet, ihre Bestrebungen hinsichtlich einer Annäherung an Europa und ihre Freiheit aufgibt und dass die russische Herrschaft über diese Gebiete wiederhergestellt wird.

Westliche Journalisten tweeten, die Menschen in der Ukraine gerieten angesichts der drohenden russischen Invasion in Panik, und die Behörden in der Ukraine bereiten bombenfeste Bunker vor, in denen die Menschen im Fall der vorhergesagten Luftschläge Schutz suchen können.

Die Ukraine ist für die Welt nur im Zusammenhang mit einer russischen Invasion interessant. 

Das Land ist eine Art „Opfer des Serienmörders“ geworden. Es hat überlebt, und möchte der Welt seine eigene Geschichte erzählen, sein eigenes Leben leben. Aber den Rest der Welt interessiert nur der berühmte Serienmörder und seine Opferrolle.

Als freiberufliche Journalistin schreibe ich vor allem für westliche Medien, und ich erkenne das Muster. Es war so schwierig, das Interesse der internationalen Medien auf „Europas vergessenen Krieg“ (wie die westliche Presse ihn gerne nennt) zu lenken, der 2014 begann und dem seitdem über 13.000 in der Ukraine lebende Menschen zum Opfer fielen.

Nun sieht es so aus, als ob alle ihre Aufmerksamkeit wieder auf den laufenden Krieg richteten, der seit über acht Jahren unsere Regionen zerstört, Familien und Freundschaften auseinanderreißt.

Die Diplomatie und die Politik in Kiew reden darüber, dass der Kreml im Donbas, der russischsprachigen Region im Osten der Ukraine, Provokationen anzetteln könnte, um eine Invasion größeren Ausmaßes einzuleiten. Russland schürt die Ängste und behauptet, Kiew wolle sein von Russland besetztes Staatsgebiet mit Gewalt zurückerobern.

Und was ist mit der ukrainischen Bevölkerung? Wie es aussieht, bleiben wir in unserer eigenen Geschichte außen vor. Andere versuchen ständig zu entscheiden, wie wir uns fühlen, wie wir leben und was wir gegen den drohenden russischen Einmarsch tun sollten. 

Für uns ist dieser Krieg nichts Neues. 

Ja, wir wollen noch immer nicht, dass der jahrelange hybride Konflikt in eine heiße Phase übergeht. Aber wir geraten auch nicht in Panik. Wir haben uns an das Leben in dieser verqueren Welt gewöhnt, in der wir eine moderne Demokratie aufbauen, zur Arbeit gehen, Steuern zahlen müssen, während ein paar Hundert Kilometer entfernt eine Front existiert, an der täglich Mitglieder der ukrainischen Streitkräfte sterben oder verletzt werden.


Nun muss ich mich also vor Ende 2022 bei einem örtlichen Einberufungsamt melden. Ich bin dazu bereit – so wie viele andere ukrainische Frauen auch


Gerade weil das alles so alltäglich geworden ist, waren die Menschen in der Ukraine die letzten, die sich um die Kriegsdrohungen Sorgen machten. Laut den jüngsten Umfragen sind 50 % der ukrainischen Bevölkerung bereit, sich Russland zu widersetzen, und 33 % würden sogar bewaffneten Widerstand leisten. In mehreren kleinen und großen Städten sind sie den Brigaden zur Verteidigung des Staatsgebiets beigetreten. Selbst im Osten der Ukraine, der dem Kreml traditionell freundlich gesinnt ist, sind die Menschen bereit, sich dem Agressor entgegenzustellen – wenn auch in geringerer Zahl (25-29 %). Ende Dezember 2021 verpflichtete unserer Regierung Frauen aus mehr als 100 Berufen, sich für einen möglichen Militärdienst zu registrieren und im Zweifel beim Zivilschutz mitzuarbeiten. 

Nun muss ich mich also vor Ende 2022 bei einem örtlichen Einberufungsamt melden. Ich bin dazu bereit – so wie viele andere ukrainische Frauen auch. Dennoch würden laut einer Umfrage des Kiewer Instituts für Soziologie im Dezember 2021 noch immer rund 15 % der ukrainischen Bevölkerung eher flüchten oder nichts tun, wenn Russland einmarschiert.

Diese Umfrage spiegelt die Stimmung in der Ukraine korrekt wider. Es gibt Leute wie mich, die momentan noch nicht einmal ihr Leben planen können ohne daran zu denken, dass es zu einem echten Krieg mit Russland kommen könnte. Noch nie war es so schwer, Winterurlaub zu planen.

Manche Menschen in der Ukraine tun so, als wäre nichts, wie einige in meinem Freundeskreis und meiner Familie. Meine 76 Jahre alte Großmutter Tamara Malyzheva, die die Sowjetunion noch immer liebt, versteht gar nicht, was dieser Tage überhaupt los ist. Wir haben uns beim Neujahrsessen mit ihr über die mögliche russische Invasion unterhalten. „Ich kann nicht glauben, wie die Russen, die doch unsere Brüder sind, uns in den Rücken gefallen sind. Wie können die Russen es zulassen, dass ihr Präsident uns niedermacht, nur weil wir unsere eigenen Entscheidungen treffen wollen?“ fragte Oma. Gleichzeitig sagte sie, sie werde bei einem russischen Angriff auf Kiew nicht in einen Bunker laufen. Oma meinte: „Ich möchte in meiner Wohnung sterben“.

Im Gegensatz zu meiner Großmutter wissen die meisten Menschen in der Ukraine ganz genau, dass die Bedrohung durch Russland real ist. 

Statt jedoch wie ich in Angst zu leben, haben sie beschlossen, jede Sekunde ihres Lebens zu genießen.

„Wir ändern gar nichts. Warum sollten wir unser Leben mit Angst vergeuden“, meinte Rita, eine junge Frau, die ich Ende Dezember auf dem Sofiivska-Platz in Kiew traf.

Trotz der Coronapandemie waren die Straßen und Cafés in den Winterferien voller Leute. Der große Weihnachtsbaum auf dem Sofiivska-Platz war schöner als je zuvor. 

Wir schauen noch immer jeden Morgen die Nachrichten und warten besorgt darauf, dass große Entscheidungen für uns getroffen werden. Wir hoffen, dass der russische Präsident nicht den Verstand verloren hat und sich beruhigt.

Aber wenn es hart auf hart kommt, sind wir bereit für den Krieg. Nur wenige von uns glauben, dass wir gewinnen können. Aber wir sind überzeugt, dass die Freiheit und der Nationalstolz, den wir während der Revolution des EuroMaidan 2013-2014 endlich wiederentdeckt haben, es wert sind, dafür zu kämpfen. 

Wir haben so viel aufs Spiel gesetzt, so viele unserer besten Leute verloren, dass wir uns nicht ergeben und wieder unter die düstere russische Herrschaft begeben können, die keinen Platz lässt für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.

Dieser Artikel wurde erstmals auf Ilta Sanomat veröffentlicht.his article was first published on Ilta Sanomat.

👉 Kyiv Independent


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