Französische Soldaten überholen Hutu-Milizen in der Nähe von Gisenyi im Westen Ruandas, 27. Juni 1994

Die offene Wunde des Genozids in Ruanda

Zwei Parteien, zwei Standpunkte, zwei Visionen Frankreichs: Leidenschaftlich diskutiert man auch achtzehn Jahre nach der Ermordung von etwa 800.000 Tutsis, welche Rolle Paris damals gespielt hat. Je nach dem Stand der Ermittlungen erscheint diese nämlich stets in einem neuen Licht.

Veröffentlicht am 9 Februar 2012 um 16:58
Französische Soldaten überholen Hutu-Milizen in der Nähe von Gisenyi im Westen Ruandas, 27. Juni 1994

Es ist eine dieser Dunkelzonen der jüngsten Geschichte Frankreichs. Eine dieser offenen, noch klaffenden Wunden, die ideologische Kriege nährt und über die gerichtet werden muss. Eine dieser französischen Leidenschaften, die in regelmäßigen Abständen dafür sorgen, dass Intellektuelle, Politiker und Aktivisten hitzige Auseinandersetzungen führen. Eine einzige, einfache und gleichzeitig so fürchterliche Frage: Trägt Frankreich Mitschuld am Genozid in Ruanda, der in nur einem Monat 800.000 Menschenopfer forderte?

Die Tatsache, dass die Frage nach fast achtzehn Jahre noch immer zu heftigen Diskussionen führt, sagt nicht nur viel über den Völkermord von 1994 selbst aus, sondern beweist auch, wie gebrochen Frankreich politisch und in seinem tiefsten Inneren sein muss. Welches jüngste Ereignis löst so verhärtete Fronten, so viel Hass untereinander und solch verbalen Zorn aus? Weder Bosnien noch der Kosovo. Auf der Suche nach vergleichbar schweren Vorwürfen und einer solch tiefen Kluft zwischen beiden Lagern muss man vermutlich bis zum Algerienkrieg, oder, wenn auch in geringerem Maße, bis zur Palästinenserfrage zurückgehen. Vereinfacht bedeutet dieser Konflikt: “Anti-Frankreich” gegen das “ewige Frankreich”.

Macht Ruanda wahnsinnig?

Das Verbrechen und die Anschuldigungen wiegen so schwer, dass einige Akteure auf der Suche einer endgültigen Wahrheit drohen, den Verstand zu verlieren. Journalisten und Aktivisten werden zu Ermittlern, Richter halten sich für Historiker, Historiker wollen investigativen Journalismus betreiben: Macht Ruanda wahnsinnig?

Das Verlangen, die historische Wahrheit mit persönlichen Ansprüchen in Einklang zu bringen, hat einige wie besessen gemacht und das Ganze mehrmals ernsthaft auβer Kontrolle geraten lassen. Obwohl die französische “Mitschuld” das wirkliche Herzstück dieser komplizierten Debatte bildet, diskutiert man seit geraumer Zeit eine andere wichtige Frage, die, wenn auch aufsehenerregend, den Genozid fürchterlich banalisiert: Wer hat das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana aus dem Lager der Hutu am 6. April 1994 abgeschossen? Fast gewinnt man den Eindruck, als nähme dieses Ereignis, in dem einige den “Auslöser” sehen, nach und nach den Platz des Völkermords selbst ein.

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Nun kam es bei den Ermittlungen zu diesem Flugzeugabsturz, die der französische Richter Marc Trévidic einleitete, aber kürzlich zu einer überraschenden – und vielleicht entscheidenden – Wende, zumal dieser Crash als Auslöser des Völkermords gilt. 2006 hatte der Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière den damaligen Anführer der Tutsi-Rebellen und heutigen Präsidenten Ruandas, Paul Kagame, für den Anschlag verantwortlich gemacht, ohne jemals in Ruanda selbst ermittelt zu haben. Laut der jüngsten Ermittlungen in Kigali, die der Nachfolger Jean-Louis Bruguières, Richter Trévidic, angewiesen hatte, scheint das feindliche Lager verantwortlich zu sein. Aus [Trévidics] Bericht vom 10. Januar geht hervor, dass Hutu-Extremisten ihren eigenen Präsidenten ermordet haben sollen. Angeblich soll er bei einem Gipfeltreffen in Arusha (Tansania) erklärt haben, dass er bereit sei, die Macht mit dem feindlichen Lager zu teilen. Von diesem Gipfel kehrte er an diesem sechsten April zurück.

Die beiden sich vollkommen widersprechende Rechts-“Wahrheiten”, die im gleichen Verfahren ermittelt wurden, enthalten die unvereinbaren Standpunkte, auf denen beide Lager in der öffentlichen Diskussion in Frankreich beharren.

Eng mit der Kontroverse verbunden ist folgende Frage: Gibt es eine Verbindung zwischen Anschlag und Genozid? Seltsamerweise ist der Flugzeugabsturz, bei dem zwölf Opfer starben, so sehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, dass der Mord von 800.000 Menschen letztendlich in den Hintergrund gedrängt wurde. Obwohl die Historiker belegen konnten, dass die Vernichtung der Tutsi-Minderheit vorbereitet wurde (Es wurden Listen erstellt, im Radio zur Ausschaltung aufgerufen, und extremistische Hutu-Milizen, die Interahamwe, gebildet, die maßgeblich zum Genozid beigetragen haben), führen die Anhänger Bruguières ins Feld, dass der Anschlag die gewichtigste, bzw. einzige Ursache für die Massaker war, die ausschließlich als “Reaktion” begonnen haben sollen.

Wieviel Mitschuld trägt Frankreich?

Aus dem mysteriösen Anschlag entwickelte sich klammheimlich ein Rätsel um die Verantwortlichen des Völkermords. Diejenigen, die Paul Kagame die Schuld an der Ermordung des [damaligen] Präsidenten geben und Frankreich keinerlei Mitschuld vorwerfen, halten ihn für den einzigen Verantwortlichen des Völkermords an seinem eigenen Volk. Der derzeitige Präsident habe die im Land lebenden Tutsi geopfert, um die Macht zu erobern. So lautet Richter Bruguières Version von 2006, die weit über den juristischen Rahmen hinausgeht und eine pamphletartige historische Analyse entwickelt.

Die französischen Offiziere, die in Ruanda im Einsatz waren, und ihre Vermittler in Politik und Medien, beispielsweise Bernard Debré, Hubert Védrine oder Pierre Péan, verabscheuen das gegenwärtige Regime Kagames. Dass Nicolas Sarkozy die Beziehungen zu Kigali auf Drängen seines Chefdiplomaten Bernard Kouchner wiederaufnahm und im Februar 2010 “Beurteilungs- und Politikfehler” einräumte, sorgte bei ihnen nicht gerade für Begeisterung.

Nach und nach haben diese beiden “Geschichtsversionen” zwei unvereinbare Lager entstehen lassen, die jeweils ihre eigene Vision der Rolle Frankreichs und seines Einflusses in Afrika haben – in internationaler und historischer Perspektive. Ohne den Bogen überspannen zu wollen: Die Akte Ruanda weckt die Erinnerung an den Algerienkrieg. Sie wirft ähnliche Fragen auf: Nach den Beziehungen zwischen republikanischem Staat und Armee, nach Beschönigung eines wirklichen Kolonialkriegs als “Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung” (Algerien) oder “Unterstützung eines von Rebellen angegriffenen, befreundeten Regimes” (Ruanda), nach der Konkurrenz mit den Briten auf dem afrikanischen Kontinent, dem so genannten “Faschoda-Syndrom” (mit Bezug auf die diplomatische Krise im Sudan 1898), dem Sinnbild für das von Großbritannien bloßgestellte Frankreich.Beide Ereignisse sind nicht nur unvorstellbare menschliche Tragödien, sondern endeten auch in einem Fiasko, in dessen Folge Paris seinen Einfluss in einer seiner strategisch wichtigsten Zonen einbüßte.

Einfache Wahrheiten sind gefragt

Vereinfacht gesagt befinden sich im Lager der Gegner Kagames die Verfechter eines makellosen Frankreichs, das in Afrika eine besondere zivilisatorische Mission verfolgt und vom angelsächsischen Imperialismus bedroht wird. Diejenigen, die dagegen davon überzeugt sind, dass Frankreich am Völkermord in Ruanda eine Mitschuld trägt, betonen unterdessen die Aufstandsbekämpfungs-Tradition ihrer Armee, deren Bogen sie von Indochina nach Ruanda über Algerien und Kamerun schlagen, ohne unter den Tisch zu kehren, wie viel ihrer politischen Elite am Kolonialismus, oder seiner zeitgenössischen Ausgabe, der Françafrique, lag und liegt.

Was in diesen Kontroversen auch deutlich wird, ist die Vorliebe für “einfache Wahrheiten, die selbst unter den Eliten um sich zu greifen scheint. Allerdings sind auch die Irrungen und Wirrungen der Ermittlungen zum Anschlag in Kigali für dieses Chaos verantwortlich. Zu wünschen bleibt also, dass Richter Trévidic eine wissenschaftliche Wahrheit herstellt. Wird dies aber reichen, um Frankreich, seine Politiker und seine Armee von der Pflicht zu befreien, diese andere “Vergangenheit, die nicht vergeht” transparenter zu machen?

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