Die Pest der Gemeinplätze

Im Mittelalter gaben Krisen genau wie heute Anlass zu Mythen aller Art. Ebenso wie die Pest auf die Juden geschoben wurde, soll alles Unglück der Welt heute die Schuld Europas und der gemeinsamen Währung sein. Ein Gedanke, dem Wirtschaftswissenschaftler Tomáš Sedláček aktiv widerspricht.

Veröffentlicht am 14 November 2012 um 12:07

„Ich gebe Europa noch ein Jahr! Höchstens zwei...“ Diese oder ähnliche Worte könnte eine Figur aus einer Tragikomödie über die aktuelle Krise aussprechen. Wir spüren alle noch den üblen Nachgeschmack der nicht eingehaltenen Versprechen.

Vom Mittelalter, als die schwarze Pest in Europa wütete, haben wir nicht nur gelernt, uns besser die Hände zu waschen. Unsere Vorfahren waren uns auch eine Anregung in Sachen Krisenmanagement. Der französische Philosoph und Historiker René Girard weist darauf hin, dass die Gesellschaft in Krisenzeiten (Cholera, Pest, politische Instabilität), wenn sie ins Chaos gestürzt wird und alle Regeln zersplittern, nicht nach den Ursachen des Übels, sondern nach (falschen) Schuldigen sucht.

Dabei ist der Fremde (oder zumindest derjenige, der „anders“ genug ist) der ideale Kandidat. Wenn er die Rolle des Sündenbocks übernimmt, kann sich die Gesellschaft wieder zusammenschweißen. Die wahren Ursachen, die Fakten und die ernsten Argumente bedeuten weit weniger als das, woran die Mehrheit glauben will.

Waren die Juden für die Pest verantwortlich? Kann der Euro schuld an unserer aktuellen Krise sein? Oder sind wir mitten im Chaos letztendlich doch ganz „glücklich“, dass Božena Němcová und Papa Masaryk immer noch in unseren Brieftaschen vertreten sind? [Die Schriftstellerin und der erste Staatspräsident sind auf den tschechischen Banknoten abgebildet.]

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Der Mythos vom Niedergang Europas

Man könnte meinen, dass wir die Ära der Mythen in der heutigen Zeit der Wissenschaft und Fakten weit hinter uns gelassen hätten. Doch ist die Tatsache, dass wir von der Existenz der Mythen gar nichts wissen, nicht ein Zeichen für ihren Triumph? Indermit Gill, Chefökonom bei der Weltbank, arbeitet am europäischen Wirtschaftsmodell. Seiner Ansicht nach gibt es fünf Mythen, denen wir zu glauben tendieren.

Auf den ersten Blick scheint der Mythos, demzufolge sich Europa im Niedergang befindet, äußerst glaubhaft. Doch wenn man die Entwicklung Europas seit dem Jahr 2000 betrachtet, ist festzustellen, dass sein Anteil an der Weltproduktion mit circa 30 Prozent stabil geblieben ist, während der Anteil der Vereinigten Staaten von 31 auf 23 Prozent gesunken ist.

Das Bruttoinlandsprodukt – ein weiterer Indikator, den die Analysten aufmerksam beobachten – ist in den letzten 20 Jahren um knapp zwei Prozent jährlich gestiegen. Die Europäer haben eine Art „Konvergenzmaschine“ erfunden, meint Gill. Mit dem EU-Beitritt erhalten die ärmsten Staaten mehr wirtschaftliche Relevanz und holen dank des regionalen Handels die reichsten Staaten ein.

Sind die europäischen Finanzen die schlechtesten der Welt? Und wer hat dann die besten? Geld sollte von den Reichen zu den Armen fließen. Das wäre, zumindest nach Meinung der Wirtschaftsexperten, die ideale Situation. Doch weltweit sehen wir das genaue Gegenteil (das „China-Syndrom“, wie Gill es nennt).

Ein anderer Mythos ist der, dass die europäischen Staaten eine zu große Rolle spielen. In den europäischen Ländern, deren Leitbild die Sozialfürsorge ist, betragen die Ausgaben des Staates einen um zehn Prozent höheren Anteil des BIP als in den Ländern außerhalb der EU.

Uns geht es besser

Fakt ist auch, dass es den entwickelten europäischen Ländern heute besser geht als je zuvor. Die Franzosen etwa arbeiten neun Jahre weniger als in den 1960er Jahren und ihre Lebenserwartungen liegt rund sechs Jahre höher. Natürlich hat diese Medaille auch eine Kehrseite: Wie kann man die Menschen dazu motivieren, das System zu unterstützen und es nicht auszunutzen? Die Antwort könnte im Norden liegen. Das skandinavische Regierungsmodell bietet vielleicht eine Lösung und zumindest den Beweis, dass sogar gewichtige Regierungen funktionieren können.

Letztendlich werden wir Europäer trotz allem dazu gedrängt, unser ganzes System zu vergessen und von vorne anzufangen. Kein Wunder, dass es in solch einem Klima schwierig ist, sich für ein Weitermachen zu begeistern. Doch wir müssen endlich erkennen, dass es draußen zwar regnet, wir aber immer noch einen Regenmantel haben – und manche auch einen Schirm.

Das wesentliche Problem ist nicht die Krise selbst, sondern das, was dazu geführt hat. Wir haben in mehreren Fällen gesehen (zum Beispiel in Deutschland Anfang der 2000er Jahre), dass die Krise bewältigt und andere Länder dadurch motiviert werden können (etwa die Slowakei).

Europas Diversität bietet in dieser Hinsicht eine Vielfalt an Erfahrungen, wie man mit einer Krise fertig werden kann. Oder sollen wir uns lieber nur eine passende Geschichte ausdenken und uns dafür entscheiden, an sie zu glauben und damit die „Pest“ einfach wegzurationalisieren? (pl-m)

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