Die Rechnung liegt klar auf der Hand. Eine Generation junger Spanier, der die Zukunftsperspektive fehlt, zögert Jahr für Jahr ihren Studienabschluss hinaus. Gleichzeitig fehlen auf einem Kontinent, der geschäftig die Basis seiner Entwicklung aufbaut, qualifizierte Arbeitskräfte.
Heutzutage ist ein Profil typisch für die spanischen Einwanderer nach Lateinamerika: Um die dreißig, hochqualifiziert und Single. Juan Arteaga passt perfekt in dieses Bild. Er ist 30 Jahre alt und wohnt seit fünf Jahren in Mexiko. Nach seinem Journalistikstudium versuchte er sich in Santander bei einem universitären Blatt ein Leben aufzubauen. „Doch in Spanien ist das nicht so einfach. Man ist schneller als man denkt Server und kein Journalist.” Daher entschied er sich dafür, auszuwandern.
Heute arbeitet er für die Beratungsfirma Llorente y Cuenca, die sich auf soziale Netzwerke und Online-Kommunikation spezialisiert hat. „In Spanien blickt man auf Lateinamerika wie auf ein Kind, das erwachsen wird“, erklärt Juan Arteaga. „Doch wenn du hier ankommst, musst du feststellen, dass das Kind riesig ist. Mexiko ist dank der bereitgestellten Mittel, seinem Erdöl, der Energie, der Größe des Landes und seiner 110 Millionen Einwohner ein weitaus wichtigerer Markt als Spanien... Von den Dimensionen her ein echtes Monster.”
„In Spanien wäre ich noch Praktikant.”
Auch wenn die Presse ausschweifend über diese privilegierte Zeit des Wohlstands und der Stabilität Lateinamerikas berichtet, sind die Spanier darüber immer wieder erstaunt. „Viele spanische Firmen kommen hierhin, um eine Basis in Mexiko zu haben, damit sie den großen Sprung nach Amerika schaffen. Nach einiger Zeit stellen sie fest, dass Mexiko selbst einen riesigen Markt in ständigem Wachstum darstellt”, und schon lassen sie ihre Expansionspläne beim Uncle Sam fallen und entwickeln eine Erweiterungsstrategie vor Ort, erklärt der junge Spanier.
Der spanische Banksektor hat dies schon vor Jahren verstanden. Javier López, Präsident der Finanzgesellschaft CreditServices, erklärte vor einigen Monaten, dass sich nach der Finanzkrise ein Großteil seiner Aktivität nach Brasilien ausgerichtet hat. „Heute arbeite ich in der Finanzverwaltung in Lateinamerika genau so, wie ich es vor fünf Jahren in Spanien getan habe.” Juan Arteaga fügt hinzu: „Hier hat die Arbeitswelt nichts mit der in Spanien zu tun. Man arbeitet unglaublich viel und hat weniger Ferien.
Doch deine Bemühungen werden belohnt. Wer gut arbeitet, steigt schnell auf. Ich bin ohne Geld und ohne Beziehungen hier angekommen und fünf Jahre später kümmere ich mich um das Marketing von Coca-Cola auf seinem zweitgrößten Markt; das alles mit nur 30 Jahren.“ Ein derartiger Aufstieg ist woanders für die meisten jungen Arbeitnehmer undenkbar. Wie Juan lapidar zusammenfasst, wäre er „in Spanien noch Praktikant.”
Wer will da noch nach Deutschland ziehen?
Im kolumbianischen Konsulat in Madrid bemerkt man einen noch nie da gewesenen Anstieg der Arbeitsvisa-Anfragen. 2008 bearbeitete das Konsulatsbüro durchschnittlich 45 Visa im Monat. Dieses Jahr liegt der Durchschnitt von allen Arten von Visa zusammengenommen bei 70, vor allem ist diese besondere Erlaubnis gefragt, Geschäftsbeziehungen knüpfen zu dürfen. Die typische Anfrage stammt von einem Spanier, „der von der Situation verzweifelt ist, Kapital besitzt und auswandern will, um zu investieren”, erklärt die Konsulin Lucy Osorno.
Ihr Land sei bei der Vergabe von Visa an Spanier „ziemlich freigiebig” und „bietet zahlreiche Investitionsperspektiven und Arbeit“, vor allem im Bereich der Infrastruktur. Kolumbien ist auf die spanischen Investitionen angewiesen und macht den Firmen die Niederlassung leicht, indem es von ihnen nur die Einstellung eines Minimums an kolumbianischen Arbeitern fordert.
Geld, der Wille, voranzukommen, spanische Kultur, malerische Landschaften, und die Tatsache, dass Spanier mit offenen Armen empfangen werden… Wer wollte da noch nach Deutschland ziehen, wenn es Lateinamerika gibt? Doch andere Faktoren, wie die geografische Distanz und das Fehlen von sozialer Absicherung, überschatten das neue Eldorado: Dieser Transfer von arbeitslosen Arbeitern, der ganz natürlich scheinen könnte, bleibt eine Option, die immer mehr geschätzt, aber selten wahr genommen wird. „Es ist ein weit entfernter Kontinent und einige Informationen [über die Gewalt] helfen nicht gerade”, gibt Juan Arteaga zu.
Auf der Suche nach Erfahrung
In Europa ist der spanische Auswanderer an keinem Ort weiter als vier Flugstunden von seiner Heimat entfernt; von Lateinamerika aus liegt das nächstgelegene europäische Ziel immerhin neun Flugstunden entfernt. Für Pilar Pin, Chefin des spanischen Auswanderungsdienstes, der die Lebensbedingungen der ausgewanderten Spanier in der ganzen Welt verfolgt, bleiben die „Gehälter, das Arbeitsrecht, die schlechte soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit und das Gesundheitswesen“ ein Problem.
Die Zahlen sind klar und man kann sagen, dass es keine Flucht der Spanier nach Südamerika gibt. Hier brechen keine Schiffe voller hungriger Emigranten mit einem Pappkoffer auf, sondern Akademiker auf der Suche nach Erfahrung. Das ändert aber nichts daran, dass in den nächsten zehn Jahren ein ganzer spanischsprachiger Kontinent aufgebaut werden muss. Gleichzeitig steckt eine gesamte Generation junger diplomierter Spanier in einer mit dem Überleben ringenden Wirtschaft fest. Zwei Realitäten, die heute langsam zusammenzutreffen. (sd)