“Das europäische Sozialmodell ist Vergangenheit!” Nie zuvor hat ein Zentralbanker so brutale Worte für die Krise gefunden, die uns alle ereilt. Am Freitag, den 24. Februar nahm Jean-Claude Trichets Nachfolger aus Italien, Mario Draghi, in einem Interview mit dem Wall Street Journal kein Blatt vor den Mund. Das, was er sagte, ist so heftig, dass es tatsächlich nur in der “Bibel” der Finanzwelt abgedruckt werden konnte. Selbst Jean-Claude Trichet hielt seine Zunge besser im Zaum, als er den EU-Bürgern erklären sollte, was sie erwartet.
Laut Mario Draghi, dem ehemaligen Goldman-Sachs-Mitarbeiter und neuen Hüter der Einheitswährung, wird die Rettung des Euro viel Geld kosten. Seiner Meinung nach existiert “kein Hintertürchen”, durch das sich die hochverschuldeten Länder vor den schweren Sparprogrammen retten könnten. Das bedeutet auch, vom Sozialmodell Abstand zu nehmen, welches unsere Arbeitsplätze sicherte und großzügige soziale Ausgleiche schuf.
Dieses Modell, das seit dem Zweiten Weltkrieg Europas Wohlstandsfundament bildet, “gehört” Mario Draghis Meinung nach “der Vergangenheit an”. Die Wall Street Journal-Journalisten erinnert Draghi an die Aussage des deutschen Ökonomen Rudi Dornbusch: “Die Europäer sind so reich, dass sie es sich leisten können, die Leute dafür zu bezahlen, nicht zu arbeiten.”
Neuzeitliche Margaret Thatcher
Die Aussagen des EZB-Präsidenten mögen höchst provokativ klingen. Zumal die Zentralbank den Banken in nur wenigen Tagen einen zweiten 500 Milliarden Euro-Scheck ausstellt. Ab Mittwoch werden sie sich vor dem zur Euro-Rettung geschaffenen [EZB-]Schalter einfinden, um uneingeschränkt Geld zu leihen. Wie soll man angesichts solcher Worte noch gegen die zunehmende Kritik ankämpfen, laut der das System nun auch die Völker opfert, um die Banken zu retten?
Mario Draghis Aussagen haben etwas Endgültiges: Versucht man, vor den ehrgeizigen Programmen zum Staatsschuldenabbau einen Rückzieher zu machen, wird das auf den Märkten sofort Folgen haben. Die Zinssätze, welche die Staaten zahlen müssen, würden in die Höhe schnellen, und die Sanierung der öffentlichen Haushalte noch schwieriger oder sogar unmöglich machen. Genau das ist Griechenland passiert und droht sich auch in Portugal, Spanien und Italien zu ereignen.
Mario Draghis Äußerungen lassen sich natürlich nicht vom europäischen Wahlkalender trennen. Im April werden die Griechen, im Mai die Franzosen und im Frühjahr 2013 die Italiener an den Urnen über ihre Zukunft entscheiden. Egal wie die Wahlen ausgehen werden, die gewählten Regierungen werden nichts anderes machen können, als den strikten Sparkurs einzuhalten, Arbeitsmarkt-Strukturreformen einzuleiten und ihre sozialen Leistungen abzubauen. Damit klingt Draghi fast so wie eine neuzeitliche Margaret Thatcher.
Die Wahl der Ex-Goldman Sachs
Und wehe dem, der ihm weismachen will, dass die momentane Gefechtspause auf den Märkten bedeutet, dass die Krise vorbei ist. Dass dem nicht so ist wird sich spätestens am Mittwoch zeigen. Dann werden die Banken die EZB um die Unterstützung bitten, ohne die das Finanzsystem sich nicht halten kann.
Gäbe es keine Geldspritzen der Zentralbanken [in den USA mit der quantitativen Lockerung des FED (kurz QE), in Europa mit den längerfristigen Refinanzierungsgeschäften der EZB (kurz LTRO)], würde alles in sich zusammenbrechen! Selbst China müsste dann seine krisengebeutelten Banken stützen. Willkommen in der grausamen Welt der “QE World”.
So unnachgiebig wie nie zuvor ruft Mario Draghi dazu auf, sich klarzumachen, was das bedeutet. Seine Entscheidung steht fest: Lieber schnell eine harte Entschlackungskur und Strukturreformen durchführen, um das Vertrauen der Märkte zurückzugewinnen, als zehn schreckliche Jahre unter ihrem Druck zu ertragen. Genau dafür hat sich Mario Monti in Italien entschieden. Bisher mit Erfolg. In nur hundert Tagen ist es diesem anderen Ex-Goldman- Sachs gelungen, [Italien] außer Reichweite des Zyklonauges zu bringen und sein Land erstmals tiefgreifend zu verändern. Dies sollte [auch] anderen Staaten eine Lehre sein.
Reaktion
Sozialmodell wieder ankurbeln
Die Wochenzeitung bedauert das angekündigten Ende des europäischen Sozialmodells, zumal dies sowohl das Finanzsystem als auch die Politik Europas gefährdet. Lässt man die Märkte allein nach ihrem Gutdünken handeln und überlässt man die Zinssätze der Willkür der Ratingagenturen, bringt die Griechenland versprochene Hilfe absolut nichts. “Die nächste Zuspitzung der Krise” wäre dann “nur eine Frage der Zeit”, meint die Schweizer Wochenzeitung.
Auf die Frage was zu tun sei, gibt das Blatt folgende Antwort: Die EU-BZE-IWF-“Troika zum Teufel jagen und die Souveränität Griechenlands über seinen Haushalt wiederherstellen? Vielleicht.”
Ziel müssten ausgeglichene Niveaus von Produktivität und Einkommen unter den Ländern sein. Notwendig wäre eine europäische Industriepolitik Richtung grünes und solidarisches Europa. Die Vermögens- und Einkommensverteilung zwischen den Klassen, aber auch zwischen den Euroländern müsste ausgeglichen werden, etwa durch die stärkere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen. […] Das Ergebnis wäre mehr Steuergerechtigkeit in Europa statt nur mehr Steuereffizienz in Griechenland.