Das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers. 2013

Ein Museum für mediterrane Kultur

Das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers wurde im Juni eröffnet. Es nimmt eine Region in den Blick, deren kulturelle Identität nicht einfach zu fassen ist.

Veröffentlicht am 2 August 2013 um 10:46
Cyril / Flickr  | Das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers. 2013

Es ist wie beim Segeln: Wer den günstigen Windhauch nicht nutzt, kommt nicht mehr vom Fleck. Das vor 13 Jahren lancierte Projekt eines Museums für europäische und mediterrane Kultur – das erste Staatsmuseum außerhalb von Paris – kam bald ins Stocken durch die Unschlüssigkeit zwischen Paris und Marseille, dem zukünftigen Standort.

Schon der konkrete Anlass für die Neugründung eines solchen Museums wirkte bemüht. Das 1936 eröffnete, verstaubte Völkerkundemuseum in Paris, das Musée national des arts et traditions populaires, sollte geschlossen und seine enormen Bestände nach Marseille überführt werden.

Der Ort am Hafen unter dem alten Fort Saint-Jean stand fest und aus dem Architekturwettbewerb ging der Südfranzose Rudy Ricciotti als Sieger hervor.

Marseille hatte andere Sorgen

Marseille hatte jedoch andere Sorgen: die sozialen Spannungen zwischen Nord- und Südquartieren etwa oder die bedürftige Bevölkerung, von der 15 Prozent unter der Armutsgrenze leben. Das Museumsprojekt fiel in den Dämmerschlaf bis die Wahl von Marseille-Provence zur Kulturhauptstadt Europas 2013 vor fünf Jahren einen neuen Schub brachte und ein wahres Baufieber auslöste.

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Gegen das Marseille des Drogengeschäfts, der Mafia und der Parallelwirtschaft begann der Wettlauf eines anderen Marseille, jenes der Kulturprojekte, der Stadtsanierung und der damit einhergehenden Gentrifizierung.

Marseille, die Anlaufstelle Nordafrikas und einzige französische Großstadt, die ihre unterprivilegierten Bevölkerungsschichten nicht in die Banlieue auslagert, entdeckt gerade die wirtschaftliche Triebkraft der Kultur.

Das Palais Longchamp und das Musée Borély wurden als Kunstmuseen neu hergerichtet, der Vieux Port wurde von Norman Foster radikal umgestaltet und das anfangs Juni eingeweihte Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée (Mucem) durch die von der Region initiierte „Villa Méditerranée“ ergänzt.

Wegweisende Museumsarchitektur

Ricciottis imposantem Quaderbau unter dem schwarz gehäkelten Betonmantel kann man sich aus dem hochgelegenen Altstadtviertel des „Panier“ über zwei lange Fußgängerstege vom Dach her oder von unten am Hafenkai her nähern. Im einen wie im anderen Fall beweist der Bau seine Qualität.

Er ist einer der wohl gelungensten Museumsbauten der letzten Jahre in Europa. Mit seinen knapp viertausend Quadratmetern Ausstellungsfläche und der Anbindung über die Stege in schwindelerregender Höhe ans Fort und das Altstadtviertel dahinter ist dieser Bau zugleich Museum, Attraktion und neues Wahrzeichen der Stadt.

Doch durch die geerbte Sammlung wird dem Mucem die Aufgabe nicht leicht gemacht. Völkerkundemuseen sind ein Auslaufmodell aus dem 19. Jahrhundert, das Mucem will einen neuen Typus von Zivilisationsmuseum schaffen.

Wie das mit dem geerbten Allerlei – eine halbe Million Werkzeuge, Ritualobjekte, Möbel, Kostüme, Plakate und nochmals so viele Fotos – zu bewerkstelligen ist bei einer derart geografisch weiträumigen Ausrichtung, ist noch immer nicht klar.

Fest steht, dass der [[Akzent auf der Verbindung zwischen Europa und dem Mittelmeerraum]] liegen soll. Bitte keine Frontziehung zwischen nördlichem Europa und dem Süden, sagt Thierry Fabre, der Programmdirektor des Mucem: Die Vision eines „lateinischen Reichs“, wie der Philosoph Giorgio Agamben sie unlängst in die Debatte warf, sei vor allem vom Norden als eine Kriegserklärung aufgefasst worden.

Ein Geburtsort für Europas Ideen?

Europa hat laut Fabre eine natürliche Neigung zum Mittelmeer hin, die nach Goethe, nach Napoleons Ägypten-Feldzug und den Moden des Orientalismus jedoch historisch verkrustete. Fabre verabscheut das „Blabla vom Mediterranen“, das Gerede von der „Wiege der Zivilisation“. Die Wiederbelebung jener Neigung sei nicht gegen den Norden gerichtet, habe aber sehr wohl mit der Selbstbehauptung einer zu oft missachteten Eigenheit zu tun.

Das Mediterrane ist für ihn eine stark gebliebene „narrative Identität“ aus gemeinsamen Geschichten und Vorstellungsbildern – ihm sei weder eine atlantische, noch eine baltische, allenfalls eine vergleichbare karibische Vorstellungswelt bekannt.

Der demokratische Aufbruch in den Ländern Nordafrikas mit der einhergehenden politischen Instabilität ist für Fabre eine Bestätigung, dass der Wind wieder aus dem Süden weht.

Von den ersten Mittelmeerträumen der Frühsozialisten nach Saint-Simon bis zu Nietzsches „Carmen“-Begeisterung oder Picassos Sonnenhymnen, so wird im Mucem mit etwas beliebiger Auswahl behauptet, ist am Südrand Europas ein neuer Kulturhorizont gewachsen, dessen Lücken vom Süden her nun geschlossen und auch politisch konsolidiert werden müssen.

Welchen Beitrag das Mucem dafür zu leisten vermag, wird davon abhängen, wie weit es über den Schatten seiner vagen Bestimmung springen kann. Der unerwartet hohe Zulauf von 350 000 Besuchern seit Eröffnung ist ein Erfolg, aber noch kein Argument.

An einer entscheidenden Bruchlinie Europas hat Marseille und sein Museum aber die Möglichkeit einer Zukunft vor sich, über die es nicht allein verfügt.

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