Einen Sprung voraus

Bankenunion, neue Investitionen, Vertiefung der politischen und wirtschaftlichen Union...der Gipfel am 28. und 29. Juni sollte Europa neuen Spielraum verschaffen, meint der Leitartikler Bernard Guetta. Schade nur, dass die Verhandlungsführer eher wie in Not geratene Rechnungsführer denn wie Visionäre agieren.

Veröffentlicht am 29 Juni 2012 um 12:48

Das Mindeste, was wir sagen können, ist, dass es unter den 27 keinen Victor Hugo, geschweige den einen Schuman, Monnet oder Churchill gibt. Da, wo eigentlich ein Visionär, ein Staatsmann notwendig gewesen wäre, um der europäischen Integration einen Sinn zu geben und neues Leben einzuhauchen, da, wo man so sehr jemanden gebraucht hätte, der mit den richtigen Worten die Union wieder hätte auferstehen lassen, um ihr einen neuen Horizont zu geben, hat der Europäische Rat sich nur recht und schlecht in letzter Minute auf ein paar Maßnahmen einigen können, die rein technokratisch daherkommen und das Herz der Menschen wohl kaum höher schlagen lassen werden. Die Migräne wird wohl noch kommen.

Man hätte Unrecht diesen Wendepunkt zu unterschätzen

Die Union hat keine politische Führung, an ihrer Spitze stehen Rechnungsprüfer. Nun denn... So ist es halt. Und da die Zeiten eben so stehen, dass jede EU-Entscheidung in eine verständliche Sprache übersetzt werden muss, wollen wir hier einmal Klartext reden und behaupten, die Bilanz der ersten Etappe ist gut, vielleicht sogar sehr gut. Da, wo bis dato nur vom Sparen und Kürzen die Rede war, wird es nun wirklich eine Stützung des Aufschwungs über Investitionen geben.

Die 27 haben den „Wachstumspakt“ beschlossen. 120 Milliarden Euro sollen mobilisiert werden, um die marode Wirtschaft wieder anzukurbeln. Die Debatte innerhalb der Union wird nun mit anderen Worten geführt, und selbst wenn sich auch nicht in kürzester Zeit ein Wunder einstellen sollte, man hätte Unrecht diesen Wendepunkt zu unterschätzen. Und das ist bei Weitem noch nicht alles.

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Eine echte Übertragung von Souveränität

Der Rat stellte auch die Weichen für eine Bankenunion. Mit ihr will die EU künftig die Finanzmärkte regulieren und überwachen, Einlagen garantieren und mit geballter europäischer Kraft die nationalen Geldinstitute stützen, damit die Länder nicht allein dastehen, wenn es gilt, über Anleihen eine marode Bank zu retten. Es geht hierbei um eine echte Übertragung von Souveränität, die sowohl der Union die Attribute eines Staats verleiht, als auch gleichzeitig jedes einzelne Mitglied im Sturm der Finanzmärkte stärkt. In EU-Sprache klingt das nach wenig. Im Klartext ist das sehr viel. Und immer noch nicht alles.

Etwas wirklich Wichtiges nimmt Gestalt an

Noch wichtiger: die 27 haben zudem noch den Bericht zur Vertiefung der wirtschaftlichen und politischen Integration genehmigt, den sie beim EU-Ratspräsidenten, der EU-Kommission, der Euro-Gruppe und der Europäischen Zentralbank in Auftrag gegeben hatten. Sie sollen nun in den kommenden sechs Monaten erste Vorschläge unterbreiten. Im Klartext heißt das, dass die Union nun den Weg einer gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik gehen wird. Es wird ein gemeinsames Finanzministerium und eine Vergemeinschaftung der Schulden geben. All dies, zusammen mit der Gemeinschaftswährung, macht aus der Union noch mehr eine öffentliche Macht: einen Föderalstaat in Kindesbeinen.

Etwas wirklich Wichtiges nimmt Gestalt an. Umso mehr noch, dass Spanien und Italien mit der Unterstützung Frankreichs in der Nacht durchgesetzt haben, dass der Rettungsfonds, der Stabilitätsmechanismus ESM, den Zentralbanken nun direkt unter die Arme greifen kann und vor allem Anleihen von Ländern kaufen darf, welche trotz aller Tugend ins Straucheln gekommen sind. Um das zu erreichen, mussten die Länder mit dem Abbruch der Verhandlungen drohen. Ein harter Kampf, doch haben sich Finanzsolidarität und eine Bündelung der Schulden de facto durchgesetzt, und das, obwohl die Verträge sie ausschließen und Deutschland dies mit allen Mitteln zu verhindern suchte.

Victor Hugo fehlte zwar, aber dennoch geht Europa gestärkt hervor.

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