Nachrichten Das Baltikum und die Krise / 4
Bitte mehr Sparprogramme! Sängerinnen beim Tanz-Festival "ÜhesHingamine" 2009, in Tallinn.

Estland, Europas Streber

Trotz Krise wird Estland voraussichtlich 2011 das nächste Mitglied der Eurozone. Die tschechische Tageszeitung Hospodářské noviny versucht, das wirtschaftliche und soziale Erfolgsmodell des Landes zu durchleuchten.

Veröffentlicht am 19 Mai 2010 um 13:58
ToBreatheAsOne  | Bitte mehr Sparprogramme! Sängerinnen beim Tanz-Festival "ÜhesHingamine" 2009, in Tallinn.

Mit seinen zwei Metern, seinem Rauschebart und Bierbauch sieht Kalev Vigats aus wie ein fürchterlicher Wikingerkrieger. Wenn er Bier trinkt, dann literweise und wenn er hinausgeht, um mit seinen Freunden in seinem Lieblingsrestaurant unweit des Zentrums von Pärnu, einem Städtchen im Süden Estlands, über Gott und die Welt zu palavern, dann wackeln die Wände. Man redet über alles, über die Qualität des Biers, über die Wirtschaftskrise oder über den Euro, der kommenden Januar eingeführt werden wird.

Bevor Kalev seinem Gast das Wort überlässt, muss er aber erst als waschechter estischer Patriot Lobeshymnen auf die lokalen Kurorte singen und daran erinnern, dass seine Heimatstadt in diesem Jahr die sogenannten Hansetage organisiert, was laut Stadtrat den von der Krise gebeutelten Tourismus wieder ankurbeln soll.

"Für die kleinen Leute ist das Leben immer noch schwierig. Sie sind knapp bei Kasse", sagt Kalev, Journalist einer lokalen Tageszeitung. Im letzten Jahr sank das BIP des Landes um 14 Prozent, die Löhne um durchschnittlich 15 Prozent und die Arbeitslosenquote kletterte auf 16 Prozent. Und dann kommt die Frage auf das, was selbst diesen Riesen wundert: Wie erklärt sich der Erfolg des Landes und das Selbstbewusstsein seiner Bürger? Denn trotz Krise wird nicht gemeckert, niemand angeschwärzt, man widersteht den Versuchungen des Populismus und Pessimismus und hat eine transparente Online-Verwaltung eingeführt.

Basiskonsens seit dem Wiederaufbau 1990

"Wir haben uns schon 2003 für den Euro ausgesprochen, bei der Volksabstimmung zum EU-Beitritt." Seither, so Kalev "war die einzig offene Frage, wann wir die geforderten Kriterien zu Euro-Einführung erfüllen." Von der maroden Ex-Sowjetrepublik hat sich Estland nach und nach zum Vorzeigeland gemausert, das in allen Studien über den marktwirtschaftlichen oder demokratischen Fortschritt auf den vordersten Plätzen liegt.

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Estland ist dazu noch das erste Land Europas, das einen Einheitssteuersatz eingeführt hat. Die offene Volkswirtschaft des Landes wurde aber auch von der weltweiten Finanzkrise hart getroffen. Was unterscheidet Estland von den anderen postkommunistischen Ländern? Es ist der Basiskonsens über die Strategie zum Wiederaufbau, der seit 1990 von niemandem in Frage gestellt wurde. Im Gegensatz zur Slowakei, zur Tschechischen Republik oder Ungarn gibt es hier keine ideologische Polarisierung.

Der EU- oder NATO-Beitritt sind Ziele aller mitteleuropäischen Länder. Doch Estland hat einen Vorteil, den man mit dem Begriff "Konsensgesellschaft" bezeichnen könnte. Ein Konzept, dass nicht leicht nachzuvollziehen ist. Die Esten sind ein verschlossenes und fleißiges Volk. Der litauische Soziologe und Philosoph Zenonas Norkus hat für den unermüdlichen Fleiß der Esten eine historische Erklärung, die auf den Thesen Max Webers zur protestantischen Ethik als Wiege des Kapitalismus beruht. Und die Mehrheit der Esten sind evangelisch-lutherisch, wenn auch nicht praktizierend...

Der Staat, des Esten Freund

Beim Willen der Esten, sich vom sowjetischen Einfluss und Erbe zu befreien, besteht ein weiterer historischer Konsens. Für die Bürger Estlands ist weiterhin das sprachlich verwandte Finnland ein Modell. Nichts schmeichelt den Esten mehr, als wenn man ihnen sagt, dass ihr Land weder baltisch noch postkommunistisch sei, sondern skandinavisch.

Die enge Bindung von Finnlands und Estlands Wirtschaft und Arbeitsmarkt, lässt den Schluss zu, dass dieser Anspruch durchaus der Wirklichkeit entspricht. Führt man die Hypothese an, dass dieser Konsens für einen korporativen Staat ist, bekommt man die Antwort, dass es in einem so kleinen Land unvermeidlich ist, dass jeder jeden kenne. Der öffentliche und private Sektor sind eng miteinander verbunden, und Regeln und Gesetze werden in voller Transparenz verabschiedet. "Die Menschen vertrauen den Institutionen, denn nach der Unabhängigkeit gab es ein starkes Wirtschaftswachstum", meint der Soziologe Aivar Voog.

Das Vertrauen in den Staat ist vermutlich das ausschlaggebende Element, das Estland von den anderen postkommunistischern Staaten unterscheidet. Die Esten können sich mit ihrem Staat identifizieren. Genau das wäre eine Erklärung für ihren respektvollen Umgang untereinander und gegenüber dem Staat. (js)

Kampf gegen die Krise

Lettland-Ungarn: Wer hat recht?

Sparen oder mehr Ausgaben, um die Konjunktur anzukurbeln? In den mitteleuropäischen Ländern wird dies Dilemma auf verschiedene Weise gelöst. Dziennik Gazeta Prawna vergleicht die Lösungsansätze. Lettland hat den Gürtel enger geschnallt und beugt sich den Forderungen des Internationalen Währungsfonds. Staatsausgaben wurden dramatisch gekürzt, dermaßen, schreibt die polnische Tageszeitung, dass Studenten im vergangenen Winter in schlecht geheizten Hörsälen froren. Der junge, gerade einmal 37-jährige Regierungschef Valdis Dombrovskis hat seinen Bürgern ein drastisches Sparprogramm verordnet: die Mehrwertsteuer stieg von 18 auf 21 Prozent, Renten wurden gekürzt, Krankenhausausgaben um 57 Prozent zurückgeschraubt, Gehälter von Ärzten und Professoren gekürzt. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten: Das Defizit bei gängigen Ausgaben, noch 26 Prozent im Jahr 2006, lag Anfang dieses Jahres bei Null.

Im Gegensatz dazu setzt der neue ungarische Regierungschef Viktor Orbán gegen die Krise auf ein hohes Haushaltsdefizit, auf Steuersenkungen und staatlichen Interventionismus, um die Konjunktur anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit zu senken. Kritik vom IWF und von der EU weist er zurück und erklärt, dass er sich nicht dem Diktat des Markts oder internationaler Institutionen zu beugen habe. Orbáns Geheimwaffe, so vermutet man, wird das Ausmerzen der Parallelwirtschaft sein, die überall im Land grassiert und ca. 25 Prozent des BIP repräsentiert.

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