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Wie verhindern, dass Europa vor Putin kapituliert?

Ohne einen radikalen Kurswechsel der EU, der zu einer kontinuierlichen Unterstützung der Ukraine und der Umsetzung einer echten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik führen muss, sei das Schicksal der Union besiegelt, mahnt der ehemalige Europaabgeordnete Olivier Dupuis.

Veröffentlicht am 21 April 2022 um 09:51

Nach den ruhmreichen Zeiten der deutsch-französischen Freundschaft unter Giscard und Schmidt und ihrer bereits etwas zweifelhafteren Wiederauflage unter Kohl und Mitterrand – letzterer eher durch die Ereignisse getrieben – kam der Motor zum Stehen. Die Vereinbarung zwischen Schröder und Chirac über die Deckelung der Agrarausgaben im Oktober 2022 ist das erste öffentliche Anzeichen dafür. Doch die Vorzeichen für diese deutsche Kehrtwende, diesen Übergang zur preußischen Zeit, diese Niederlage der Befürworter eines europäischen Deutschlands hatten sich im Laufe des vorausgegangenen Jahrzehnts gehäuft.

Präsident Mitterrand liess die Frage von Bundeskanzler Kohl nach einer möglichen Vergemeinschaftung der französischen nuklearen Abschreckung unbeantwortet. 1994 reagierte die französische Politik nicht auf den Vorschlag der beiden CDU-Leitfiguren Wolfgang Schäuble und Karl Lamers, ein "Kerneuropa" zu schaffen. Im Jahr 2000 schwieg Frankreich beharrlich zum Vorschlag des deutschen Außenministers Joschka Fischer, einen europäischen Bundesstaat zu gründen, obwohl dieser Vorschlag im Januar 2001 von Bundeskanzler Schröder öffentlich unterstützt wurde.

Die "Partei der Preußen", der Anhänger eines national-zentrierten Projekts, die bislang in der  Minderheit war, ist wieder auf dem Vormarsch. Sie gewinnt neue Unterstützer unter den Enttäuschten der europäischen Option und findet in Bundeskanzler Schröder ihren Anführer, der dem europäischen Projekt den Rücken gekehrt hat und sich dafür der alten deutschen Alternative zuwendet: Dem merkantilistischen Imperialismus und einer privilegierten Partnerschaft mit Russland. 

Dank der Beharrungskraft der verblassten Ambitionen der 1990er Jahre und der Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Staaten gelang es den damals 15, sich auf das Projekt einer Verfassung zu einigen - den Vertrag von Rom aus dem Jahr 2004. 

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Aber in Frankreich ist der Einfluss der Legenden nach wie vor stark. So die Legende, zu den Siegern des Zweiten Weltkriegs zu gehören, die darauf beruht, dass im kollektiven französischen Bewusstsein und Unterbewusstsein, Briten und Amerikaner, die eigentlichen Befreier Westeuropas, durch Charles de Gaulle, den Erlöser Frankreichs von Pétainismus und Vichy-Frankreich, ersetzt wurden. Die Legende in den Glauben, dass die nukleare Abschreckung während des Kalten Krieges die Unabhängigkeit Frankreichs garantiert hätte, obwohl sie es allenfalls vermochte die Bedingungen seiner Unterwerfung zu schaffen.

Die Legende, die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sei eine Anerkennung der französischen Einmaligkeit und nicht das Ergebnis der Absicht der Briten und Amerikaner, die Demütigungen des Versailler Vertrags nicht wiederholen zu wollen, und vor allem das Ergebnis eines pragmatischen Kalküls von Sowjets und Amerikanern, ein Land zu "begleiten", das vor dem Ende seiner Bedeutung als Weltmacht stand. 

Zeitgleich wurde Jean Monnet - tatsächliche ein Ausnahmetalent der europäischen und französischen Politik des 20. Jahrhunderts - vergessen und an den Rand der nationalen französischen Geschichte gedrängt. 

Zusammen mit dem Bedeutungsverlust Frankreichs infolge des Aufstiegs von Schwellenländern, führte dieser Selbstbetrug zur blut- und ideenleeren Kampagne des Jahres 2005, die dazu führte, dass die französischen Bevölkerung in einem Referendum den Vertrag über die Verfassung für Europa mit einem Stimmenanteil von 55% ablehnte. 

In den folgenden Jahrzehnten lebt Europa mit Merkel auf der einen Seite und Sarkozy-Hollande-Macron auf der anderen Seite, im Takt seelen- und planloser Führung vor sich hin. 

Merkel-Deutschland setzte, ohne es jemals zu sagen, die von seinem Vorgänger eingeleitete preußische Politik fort, das Frankreich Sarkozy-Hollande-Macrons verfolgte, unabhängig von der jeweiligen Rhetorik, die Chimäre eines französischen Europas. Mit diesem Europa ohne jegliches Selbstbewusstsein hatte Putins Russland leichtes Spiel. Putin konnte seine Figuren auf dem Spielfeld ohne grosse Widerstände aufstellen, indem er sich Schweigen und Komplizenschaft des Establishments der Mitgliedstaaten erkaufte, vor allem im "alten Europa", und stets die Verfechter des national-souveränen Ansatzes unterstützte, ob diese nun angeblich außerhalb des Systems operierten oder in die offiziellen Machtsphären miteingebaut waren.

Mit dem Einmarsch in die Ukraine im Februar wurden Positionen erschüttert, Gewissheiten galten nicht mehr. Allerdings war dies der NATO, der amerikanischen Führung und der politischen Mobilisierung des "neuen Europa" zu verdanken. Das Europa, das mit dem Putin-Regime sympathisiert, wurde jedoch nicht abgeräumt - vor allem nicht in den Ländern, für die die Union in erster Linie ein Instrument im Dienste eines nationalen Projekts ist: Deutschland und Frankreich. Diese scheinbare Gemeinsamkeit hat eine Zweckgemeinschaft hervorgebracht, in der jede Seite bei allen sensiblen Themen eine gemeinsame Lösung anstrebt, die das jeweilige nationale Projekt der anderen Seite nicht unterläuft. Der Austritt des Vereinigten Königreichs hat diese de-facto Allianz noch beträchtlich gestärkt, so dass man von einem “Kondominium”, also einer gemeinsamen Herrschaft Deutschlands und Frankreichs, über die Europäische Union sprechen kann.

So bleibt hinter den offiziellen Erklärungen zum Schulterschluss mit Kiew, die Haltung Deutschlands und Frankreichs zumindest ambivalent. Es ist nicht ganz unwichtig hier daran zu erinnern, dass es sich dabei um die entschiedensten Gegner des NATO-Beitritts der Ukraine handelt, motiviert durch die Befürchtung dieser könne Moskau provozieren. An diesem Punkt ist es wohl nicht verboten darüber nachzudenken, dass man in Paris und Berlin nicht wirklich an den Sieg der angegriffenen Ukraine glaubt und noch viel weniger an die absolute Notwendigkeit dafür, für die Ukraine, für Europa, für die freie Welt. Und dass es daher auch darum geht, die zukünftigen Beziehungen mit dem Aggressor mitzudenken.

Die Zögerlichkeit und die Langsamkeit, die die deutsche Regierung bei der Umsetzung ihres Versprechens, die Ukraine mit Waffen zu versorgen, an den Tag legt, lässt keine Interpretationen zu. Auch am Seine-Ufer, wo man normalerweise keine Zurückhaltung bei jeder Art von Waffenlieferungen an den Tag legt, zeigt man keine besondere Eile, die Ukrainer mit dem zu versorgen, was sie dringend benötigen. In wirtschaftlicher und handelspolitischer Hinsicht scheinen weder Berlin noch Paris nennenswerten Druck auf französische und deutsche Industriekonzerne auszuüben, sich aus Russland zurückzuziehen. Lediglich an der "Dialog"-Front scheinen sich überschäumende Aktivitäten zu entwickeln. Man kann die Telefongespräche des deutschen Bundeskanzlers und des französischen Präsidenten mit dem Kremlherrn kaum zählen.

Aber es ist die Frage des EU-Beitritts der Ukraine, bei der die deutschen und französischen Positionen am aufschlussreichsten für die Vorherrschaft eben dieses deutsch-französischen Kondominiums über die Europäische Union sind und, spiegelbildlich, einen Einblick in die zentrale Bedeutung der NATO (und damit der USA) bei der Definition und Umsetzung der Politik zur Unterstützung der Ukraine, auch durch die EU-Mitgliedsländer, bietet. 

Denn sobald es um die Union - und nur um die Union – geht, wird ein Unterschied gemacht. So glaubt Präsident Macron nicht, dass es möglich ist, "ein Beitrittsverfahren mit einem Land zu eröffnen, das sich im Krieg befindet". Eine seltsame Antwort, wenn man sich bewusst macht, dass es kein rechtliches Argument gibt, auf das sie sich stützt, und dass mehr als 20 Mitgliedstaaten der Auffassung sind, dass sie eine Priorität der Union darstellen sollte. Zudem eine Form von selektiver Amnesie, wenn man bedenkt, dass das britische Parlament 1940 auf Initiative von Winston Churchill - und Jean Monnet – Frankreich, das sich damals im Krieg befand, die Schaffung einer britisch-französischen Union vorschlug, mit einem einzigen Parlament und einer einzigen Regierung. Charles de Gaulle, der damals Untersekretär für Verteidigung und Krieg war, unterstützte das Projekt. Ratspräsident Paul Reynaud, der dem Projekt eher zugeneigt war, wurde jedoch am folgenden Tag ausgebootet und durch den Marschall Pétain ersetzt.

Nur zwei Persönlichkeiten des "alten Europas", die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und der italienische Ministerpräsident Mario Draghi, sprachen sich unzweideutig dafür aus, der Ukraine den Kandidatenstatus einzuräumen und die Beitrittsverhandlungen rasch zu beginnen. Denn ebenso wie die Staats- und Regierungschefs der mittel- und osteuropäischen Länder und aller anderen Länder, die den Prozess des Beitritts der Ukraine zur Union unterstützen, haben sie die herausragende Bedeutung der Ukraine, nicht nur für die Ukrainer selbst, sondern für alle Europäer und - last but not least - für die gesamte Union gesehen.

Denn wenn der Beitritt der Ukraine einerseits ein mehr als legitimes Streben der Ukrainer und eine grundlegende Voraussetzung für die Rechtsstaatlichkeit, das demokratische System und die Wirtschaft dieses großen Landes ist, so ist er mittlerweile auch eine lebenswichtige Notwendigkeit für die Union selbst und ihre Mitgliedstaaten, da er entscheidend für die Union wäre, um aus der Umklammerung des deutsch-französischen Kondominiums auszubrechen und damit zu ihrem demokratischen Gleichgewicht beizutragen.

Der politisch-institutionelle Status quo der letzten zwanzig Jahre, der sich mangels besserer Alternativen, aus Opportunismus oder schlichtweg aus intellektueller Faulheit auf das deutsch-französische Kondominium stützt, bietet jedenfalls keinen Ausweg. Die Entscheidung Deutschlands, von jetzt an 2 % seines Haushalts den Verteidigungsausgaben zu widmen, sowie die Auflage eines 100-Milliarden-Euro-Fonds zur Ertüchtigung der deutschen Armee - so notwendig sie auch sein mögen – bergen bereits tiefgreifende Veränderungen des Gleichgewichts innerhalb der Union in sich. Denn die Tage der in qualitativer und quantitativer Hinsicht relativen Überlegenheit der französischen Armee sind damit gezählt und mit ihr auch die Vorstellung einer französischen Vormacht in einer möglichen europäischen Verteidigungsarchitektur.


Der Beitritt der Ukraine einerseits ein mehr als legitimes Streben der Ukrainer und eine grundlegende Voraussetzung für die Rechtsstaatlichkeit, das demokratische System und die Wirtschaft dieses großen Landes ist


Aber über die französische Frage hinaus zeigt der Krieg in der Ukraine, falls dazu Anlass bestand, dass  der alte Spuk von der strategischen Unabhängigkeit Europas, selbst  in seiner gestutzten Variante als Teilkonstrukt eines "europäischen Pfeilers der NATO" bis auf Weiters, kurz- und mittelfristig, eine reine Illusion bleibt.

Denn für die Union bedeuten die vielgepriesenen Fortschritte im Verteidigungsbereich (Einrichtung eines Europäischen Verteidigungsfonds und Ständige Strukturierte Zusammenarbeit) kaum mehr als eine Europäisierung der Forschungs- und Entwicklungskosten und eine Nationalisierung ihrer Gewinne und Vorteile vor allem zu Gunsten des deutsch-französischen Kondominiums.

Was den strategischen Kompass betrifft, der dem Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik am Herzen liegt, so handelt es sich um einen Kompass ohne Schiff, ohne Kapitän, ohne Mannschaft und ohne Reeder. Es sei denn, man betrachtete eine Ansammlung von 5.000 Soldaten aus verschiedenen nationalen Kontingenten, grossspurig als europäische schnelle Eingreiftruppe bezeichnet, als "Schiff". Dieses Projekt, das schon vor der russischen Invasion der Ukraine eher zum Schmunzeln einlud, reduziert sich jetzt auf reine bürokratische Besessenheit.

Statt einer geschlossenen Reaktion der Europäischen Union, mussten zwanzig Mitgliedstaaten während des Gipfels von Versailles die ganze Nacht hindurch für eine Bestätigung der europäischen Zukunft der Ukraine kämpfen, um dann mitanzusehen, wie dieses Ergebnis von Präsident Emmanuel Macron und Premierminister Mark Rutte wieder offen in Frage gestellt wurde, kaum dass der Gipfel beendet war. Als ob es in einer solchen Situation nicht möglich gewesen wäre, dass die Mitgliedstaaten vom formellen Verfahren abweichen könnten, um zu beschließen der Ukraine sofort den Status einer Kandidatin zukommen zu lassen und der Kommission einige Wochen zu geben, um das Verfahren zur formellen Eröffnung der Verhandlungen zu Ende zu bringen.

Das EEG der EU ohne Signal

Ein Europa mit einem Mindestmaß an Selbstbewusstsein hätte diese Entscheidung innerhalb weniger Minuten getroffen, und es so den Staats- und Regierungschefs ermöglicht, eine echte Debatte über die anderen notwendigen und erforderlichen Initiativen der Union zur Unterstützung der Ukraine zu lancieren – bei der es dann auch um die politischen und institutionellen Initiativen ginge, die es der Union ermöglichen würden, die Grundlagen für eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen, die sich die dazu erforderlichen militärische und diplomatische Instrumenten gibt.

Wenn es nicht zu einem radikalen Kurswechsel der 27 Mitgliedstaaten kommt, der zu einer unerschütterlichen Unterstützung der Ukraine durch die Union und einem Erwachen aus ihrem tiefen Koma führt, indem die Regeln und Instrumente für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik angenommen werden, ist das Schicksal der EU besiegelt: Eine langsame und sanfte Überführung in ein Vichy-Regime. Ihre Umwandlung in eine Marionetteninstitution innerhalb eines vollständig "re-nationalisierten" Kontinents, mit Schaltzentralen in Berlin und Paris und hin und wieder Theateraufführungen in Brüssel - eine politische Fiktion, die sogar in Wladimir Putin einen Gesprächspartner finden könnte.


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