Analyse Analyse der Invasion der Ukraine

Der Ukraine-Krieg - Putins Imperialismus in der Endphase

Die russische Invasion in der Ukraine kann als Endpunkt eines expansionistischen Projektes des Kremls verstanden werden: “Russland ist wieder zu einer aggressiven, traditionalistischen und national-imperialistischen Macht geworden”, meint der italienische Journalist Andrea Pipino von Internazionale.

Veröffentlicht am 25 April 2022 um 17:24

Der Kreis schließt sich. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat es nur eine Generation gebraucht bis sich das neue Russland ins Verderben gestürzt hat. Dreißig Jahre voller nicht gehaltener Versprechen, enttäuschter Hoffnungen und falsch verstandener Signale: beginnend mit dem Widerstand Jelzins gegen den Augustputsch 1991, im Zuge dessen er auf einen Panzer kletterte und die Demonstranten ermutigte, bis zur wohl inszenierten ultranationalistischen Feier am 18. März 2022 im Luschniki-Stadion, wo kitschige russische Popmusik der 2000er Jahre auf den Gigantismus der nordkoreanischen Paraden von Kim Jong-il trifft. Das Ende einer Epoche.

Dies ist das Ende einer Entwicklung, die an einem bestimmten Punkt durchgedreht ist und sich gegen sich selbst gewandt hat. Aus einem nicht perfekten aber lebendigen und neugierigen postsowjetischen Staat wird ein imperialistisches neo-sowjetisches Monster. Dabei musste es nicht so kommen. Und so sehr man auch auf die Fehler und die Verantwortung des Westens hinweisen mag, ist es schwer zu glauben, dass die Entwicklungen der letzten 10 Jahre in Moskau einzig aus der Einflussnahme und der aggressiven Marktstrategie des Westens während der instabilen Übergangsphase der 90er Jahre resultieren.

Denn dann gäbe es heute viele kleine nach dem Vorbild von Putins Russland aufgebaute Staaten in Zentral – und Mitteleuropa – was glücklicherweise, trotz der demokratischen Mängel in einigen der ehemals kommunistischen Ländern, nicht der Fall ist.

Ein Übergang mit Blutvergießen

In den Analysen und den Versuchen, den russischen Angriff auf die Ukraine zu erklären, war immer wieder von einer „Erniedrigung Russlands“ die Rede. Oft wurde auf den NATO-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder verwiesen, der als Ausbreitung und Erweiterung der militärischen Allianz ausgelegt wurde. Mit jener typisch westlich-zentrierten Einstellung, die häufig dazu neigt, die autonome Entscheidungsfähigkeit von Subjekten zu negieren. Diese Erweiterung hat jedoch auf Wunsch der Osteuropäer hin stattgefunden. Für sie war das Ende des Zweiten Weltkriegs keine Befreiung gewesen, sondern ein Übergang von einem blutigen Totalitarismus in eine neue politische Ordnung, die sich nach der ersten revolutionären Phase als ebenfalls radikal autoritär erwies.

Die baltischen Staaten sind der NATO beigetreten, um ihre Souveränität und territoriale Integrität zu sichern. Nachdem sie sowohl das Zarenreich als auch zwanzig Jahre der Unabhängigkeit zwischen den beiden Weltkriegen erlebt hatten, wurden die Balten nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Paktes Teil der Sowjetunion (diese Zugehörigkeit haben die USA niemals formal anerkannt). Die Tschechen mussten 1968 mit ansehen, wie die Panzer des Warschauer Paktes die Revolutionsversuche des Prager Frühlings niedermachten. Die Ungarn hatten 12 Jahre zuvor eine ähnliche, sogar noch brutalere Erfahrung gemacht. Und die Polen erinnern sich an die Niederschlagung der Arbeiteraufstände von 1956 und 1970 und das Kriegsrecht von 1981.

Das komplexe und schwierige Verhältnis zwischen Russland und der NATO

Der NATO-Gipfel in Bukarest 2008 wird oft als Beweis für den gewagten Expansionismus des Militärbündnisses angeführt. Doch die abschließende Erklärung des Gipfels kommt eher einer von den USA aufgezwungenen Erklärung einer generellen Absicht gleich, als einem echten politischen Fahrplan: „Die NATO ist erfreut über die euro-atlantischen Bestrebungen von Georgien und der Ukraine, [...]. Heute haben wir beschlossen, dass diese Länder NATO-Mitglieder werden.“

Schon damals war klar, dass die europäischen Bündnisstaaten den Eintritt weiterer östlicher Nationen, insbesondere der früheren Sowjetrepubliken, nicht gern sehen würden. Russland griff Georgien im August 2008 an und machte seine Kontrolle über die nicht anerkannten Republiken Abchasien und Südossetien offiziell, die bereits 16 Jahre lang unter russischem Einfluss gestanden hatten. Ohne diesen Angriff wäre Tiflis der NATO wohl kaum innerhalb so kurzer Zeit beigetreten. Ähnlich war es in der Ukraine und vor den Militäraktionen auf der Krim. Genau wie 2014 im Donbass, wo mit ca. 20 % nur eine Minderheit der Bevölkerung für einen NATO-Beitritt gewesen war. Und wenn Moskau tatsächlich nur das Ziel verfolgt hätte, Kiew vom atlantischen Bündnis fern zu halten, hätte es gereicht, sich an das Minsker Abkommen zu halten. An dieser Stelle muss jedoch auch gesagt werden, dass in den vergangenen Jahren im Beisein von NATO-Staaten mehrere Militärübungen auf ukrainischem Boden stattgefunden haben, was Moskau verständlicherweise beunruhigt hat.

Doch man sollte auch bedenken, dass Moskau zu dem Zeitpunkt, als die Ukraine und 23 weitere Staaten - nicht alle davon NATO-Mitglieder - im Juli 2021 an den Militärübungen Sea Breeze teilnahmen (5.000 Soldaten, vorbereitet seit 1997), bereits Zehntausende Soldaten an der Ostgrenze der Ukraine stationiert hatte. 

Außerdem hatten nur vier Monate zuvor russische Schiffe gemeinsam mit mehreren NATO-Staaten eine Reihe an Militärmanövern im pakistanischen Meer durchgeführt. Die Beziehungen zwischen Russland und der NATO sind also komplexer als meist zugegeben wird. Um sich ein Bild von der Situation zu machen, muss man sich nicht im Abkommen von Pratica di Mare oder in den Protokollen und Abkommen der 90er und 2000er Jahre verlieren. Es reicht, sich vor Augen zu führen, dass der Konflikt in Tschetschenien (1999-2009) zu einem Großteil von Russland ausgefochten wurde, unter dem Deckmantel des von den USA begonnenen Krieges gegen den Terrorismus, der gegen den internationalen Dschihadismus gerichtet war. 

Der Weg in Richtung Demokratie

Die Ukraine hätte also viele gute Gründe, Sicherheitsgarantien von seinem breitschultrigen großen Bruder zu verlangen. Zunächst den Angriff auf ihre territoriale Integrität 2014, der einherging mit dem Verstoß gegen das Budapester Memorandum von 1994 und einer ständigen politischen Einmischung des Kremls. Diese Einmischung hatte bereits 2004 zur Orangenen Revolution geführt, und dann 2014 zum Euromaidan. Hinzu kommen die unverheilten Wunden aus dem vergangenen Jahrhundert: die sowjetische Besatzung der Gebiete Ostgalizien und Wolhynien 1939, die Zwangskollektivierung und die mehr als 3 Millionen Hungertoten von Holodomor zwischen 1932 und 1933.

Damit ist nachvollziehbar, dass die unabhängige Ukraine in den vergangenen dreißig Jahren bestrebt war, trotz zahlreicher Schwierigkeiten und Rückschläge den Weg hin zu einer Demokratie und zur Bildung einer pluralistischen nationalen Identität (mit religiöser und sprachlicher Vielfalt) einzuschlagen und sich den Absichten Moskaus zu entziehen.

2014: ein „Staatsstreich“?

Bei diesem Thema sollten den Ereignissen von 2014 ein paar Worte gewidmet werden. Wenn ein „Staatsstreich“ laut Definition der italienischen Enzyklopädie Treccani ein „von einem konstitutionellen Organ durchgeführter“ Umsturz der öffentlichen Machtverhältnisse ist, so war das Geschehen zwischen November 2013 und Februar 2014 ganz sicher keiner. Denn die Bewegung ging von der Bevölkerung aus, war also vielmehr von revolutionärer Natur.

Rekapitulieren wir einmal die Ereignisse: die Proteste beginnen abrupt, als der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch (der 2004 während der Orangenen Revolution abgesetzt wurde, aufgrund des ihm vorgeworfenen großangelegten Wahlbetruges, und 2010 wiedergewählt wurde) plötzlich die Richtung ändert und das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschreibt (obwohl mit dem Abkommen ausdrücklich kein Beitritt in die EU einherging).

Der Grund dafür ist der starke, vom Kreml ausgeübte Druck: Kiew wurden niedrigere Gaspreise und essentiell wichtige Investitionen versprochen. Die Demonstranten verlangen den Rücktritt des Präsidenten und lehnen das politische und soziale Programm seines Regimes ab, das von Korruption, wachsendem Autoritarismus und russischem Gehorsam gekennzeichnet ist.

Die Antwort der Regierung darauf ist brutal - Entführungen, rohe Gewaltausübung und Totschlag - doch anstatt die Protestanten zu bremsen, bestärkt dies deren Entschlossenheit. Nach drei Monaten von Revolte, Gewalt und Repressionen flieht Janukowytsch nach Russland und eine Übergangsregierung wird in Kiew eingesetzt. Diese wird geführt von dem vorläufigen Premierminister Arsenij Jazenjuk, der sofort Präsidentschaftswahlen für den Mai einberuft. 

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