Presseschau Core Europe

Europäische Verteidigung: Uneinigkeit im Unglück

Die Rückkehr Donald Trumps schürt die Verteidigungsängste der Europäer. Seine zweite Amtszeit bedroht den Sicherheitsschirm der NATO, könnte aber auch den notwendigen - wenn auch kostspieligen - Anstoß zu strategischer Autonomie geben.

Veröffentlicht am 11 Dezember 2024

„Die NATO ist ein Zombie - ein Gebilde, das zwar noch lebendig aussieht, aber bei weitem nicht mehr voll funktionsfähig ist“, warnt Schachprofi Garri Kasparow, der zum politischen Aktivist wurde, in der Welt. Sein Rezept für die Sicherheit Europas ist eindeutig: der Aufbau einer autonomen Militärmacht, wobei Deutschland trotz historischer Empfindlichkeiten eine Führungsrolle übernehmen sollte.

Der Kontinent kann es sich nicht länger leisten, seine Sicherheit in Amerikas Hände zu legen, zumal Trumps Rückkehr die jahrzehntelange transatlantische Zusammenarbeit zu erschüttern droht. Der immer einsamer werdende Kampf der Ukraine hat die militärische Unzulänglichkeit Europas offenbart. Die Autonomie, so Kasparow, erfordert mehr als nur höhere Verteidigungsausgaben. Europa muss seine Institutionen neu konzipieren und sich auf eine kohärente Einwanderungspolitik einigen, um den Aufstieg radikaler Parteien einzudämmen. Zudem muss Europa sich eine robuste militärische Architektur schaffen, die von amerikanischer Unterstützung unabhängig ist. Die Alternative wäre ein zersplittertes, verletzliches Europa - zu gefährlich, um sie in Betracht zu ziehen.


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„Nach dem Wahlsieg von Donald Trump ist Panik ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Die Europäer werden sich die Hände schmutzig machen müssen – und zwar schnell“, schreiben Sophia Besch und Liana Fix in der Zeit. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben lange über Trumps Rückkehr gesprochen, aber es versäumt, sich darauf vorzubereiten. Jetzt stehen sie vor drei dringenden Aufgaben: das Überleben der Ukraine zu sichern, den Zusammenhalt der NATO zu garantieren und die Einheit der EU zu bewahren. Da die amerikanische Unterstützung schwankt, muss Europa die Finanzierung der Ukraine aufstocken und gleichzeitig die US-Militärhilfe durch kollektive Verhandlungen aufrechterhalten, argumentieren die beiden deutschen Journalistinnen.

Die Einstellung der US-Unterstützung könnte den militärischen Zusammenbruch der Ukraine auslösen und Russland zugutekommen, wenn Trump ein moskaufreundliches Friedensabkommen vermittelt. Über die traditionelle Achse Berlin-Paris hinaus schlagen Besch und Fix vor, dass eine neue „E7“-Gruppe - bestehend aus europäischen Großmächten sowie EU- und NATO-Beamten – die neue Verteidigungsstrategie koordinieren und 3 % des BIP für Militärausgaben anpeilen sollte. Diese militärische Aufrüstung könnte sowohl der europäischen als auch der amerikanischen Rüstungsindustrie zugutekommen. Die politischen Turbulenzen in Deutschland erschweren die Angelegenheit zwar, doch kann es sich Europa nicht mehr leisten, zu zögern, warnen die Autorinnen.

Zwischen Skylla und Charybdis

Europa kann es sich nicht mehr erlauben, zu trödeln, doch viele EU-Staaten können es sich nicht leisten, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, ohne gegen die im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegte Defizitgrenze von 3 % zu verstoßen. Diese Zwangsjacke mit der Androhung von Sanktionen schafft eine scheinbar unlösbare Aufgabe. In der italienischen Zeitung Il Sole 24 Ore scheint Andrea Carli ein „italienisches Rezept“ für dieses Dilemma parat zu haben. Trotz seines Defizits von 7,2 % glaubt Italien, einen Ausweg gefunden zu haben. Verteidigungsminister Guido Crosetto schlägt vor, die Militärausgaben aus den Defizitberechnungen herauszunehmen - eine kreative buchhalterische Lösung, die die Sozialausgaben sichern und gleichzeitig den Verteidigungsetat erhöhen würde. Das Rezept, das die Finanzierung der Militärausgaben durch gemeinsame europäische Anleihen vorsieht, hat in dem litauischen EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius einen einflussreichen Unterstützer gefunden.

Trumps Sieg wird auch Spanien finanziell belasten. Das Land muss 10,5 Milliarden Euro zusätzlich für Verteidigungsausgaben aufbringen, berichtet Juan Portillo in der Madrider Zeitung Expansión. Die Drohung des US-Republikaners, NATO-Verbündete im Stich zu lassen, die das BIP-Ziel der Allianz von 2 % nicht erreichen, bringt Spanien in eine besonders unangenehme Lage. Mit mageren 1,3 % (19,7 Mrd. €) liegt das Land am Ende der NATO-Rangliste weit hinter Polen (4,12 %) und den USA (3,38 %). Doch jede Erhöhung der Militärausgaben stößt in Spanien auf heftigen Widerstand, vor allem seitens der linken Regierungspartner Podemos und Sumar. 

Europa muss aufwachen

Wolfgang Munchau beklagt in El País, dass es Europa nach Trumps Sieg 2016 nicht gelungen ist, seine Abhängigkeit von Amerika im Verteidigungsbereich zu verringern. Trotz Angela Merkels Erklärung, dass Europa „sein Schicksal selbst in die Hand nehmen“ müsse, habe sie kein Kapital in das Projekt investiert. Mit der sich abzeichnenden Rückkehr Trumps ins Weiße Haus steht Europa nun vor drei Optionen: ihn ignorieren und weitermachen wie bisher, Schritte in Richtung größerer Unabhängigkeit unternehmen oder mögliche Deals mit ihm anstreben. Für Munchau bestünde die beste Strategie darin, die Abhängigkeit von Amerika zu verringern, ohne dabei antiamerikanisch zu werden. Aber er geht davon aus, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs eher versuchen werden, Trump zu beschwichtigen, was eine gefährliche Unterschätzung des kommenden US-Präsidenten wäre. 

Eine noch düsterere Vision zeichnet der tschechisch-amerikanische Wirtschaftsjournalist Jiří Pehe in Deník Referendum. Seiner Ansicht nach steht Europa zwischen einem kriegführenden Russland und einem unzuverlässigen Amerika, das unter Trump noch autoritärer werden könnte. Die Union ist auf diese Herausforderung schlecht vorbereitet. Trotz langem Vorlaufs hat sie es nicht geschafft, eine unabhängige Verteidigungskapazität aufzubauen, sodass der neue EU-Verteidigungskommissar lediglich symbolische Macht ausüben kann. Auch wurde der Prozess der europäischen Entscheidungsfindung nicht reformiert.

„Es ist politisch pervers“, beklagt Pehe, dass gerade Politiker aus dem postkommunistischen Zentraleuropa die Wahl Donald Trumps jetzt als ‘nützlichen Weckruf' für die taumelnde Union darstellen. Sind sie es doch, die alles daran setzen, eine stärkere Integration und damit eine größere Handlungsfähigkeit der EU zu verhindern.“ Genau diese Politiker wissen doch genau, dass die schwerfällige Architektur der EU eine rasche Reaktion unmöglich macht. Einige scheinen diese Lähmung sogar zu begrüßen, meint der Journalist. 

Der tschechische Sicherheitsexperte und Universitätsprofessor Miloš Balabán schreibt in Lidové noviny, dass Europa seine fragmentierte Verteidigungsstrategie dringend ändern muss, um seine militärischen Fähigkeiten zu stärken. Seiner Meinung nach muss Europa nicht nur die Verteidigungsausgaben kräftig erhöhen, sondern auch übermäßige Vorschriften abbauen, die derzeit noch für europäische, nicht aber für amerikanische Waffenhersteller gelten. „Ein integrierter Markt würde eine kosteneffiziente Aufrüstung ermöglichen und den Verteidigungsunternehmen Größenvorteile verschaffen“, erklärt Balabán. Das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten EU-Lieferanten bevorzugen und die industrielle Konsolidierung fördern müssten. Damit würden breitere Produktionskapazitäten gefördert werden, einschließlich der wichtigen Munitionsproduktion. Auch würde dies den Aufbau größerer Verteidigungsunternehmen ermöglichen, die in der Lage sind, umfassende Waffensysteme und Wartung anzubieten, argumentiert Balabán.


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Laut Ballmer hat Deutschland bereits Schweizer Firmen von neuen Aufträgen ausgeschlossen, unter anderem von einer Ausschreibung für 100'000 Tarnnetze, nachdem die Lieferung von Gepard-Munition aus Schweizer Produktion an die Ukraine blockiert wurde. Die Niederlande haben beschlossen, keine Schweizer Waffen mehr zu kaufen, während Dänemark und Spanien ähnliche Schritte erwägen. Grund für die Blockade ist das Schweizer Kriegsmaterialgesetz, das die Wiederausfuhr in kriegführende Länder verbietet. 

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