Die Arbeitslosigkeit in Spanien steigt weiter an - Photo de Nestor

Europawahl für Reiche?

Die Arbeitslosigkeit steigt, die soziale Absicherung sinkt: Da Europa den unteren Gesellschaftsschichten nichts nützt, wird die Wahlbeteiligung niedrig sein, so die These von Vicenç Navarro.

Veröffentlicht am 24 Mai 2009 um 15:41
Die Arbeitslosigkeit in Spanien steigt weiter an - Photo de Nestor

Allen Umfragen zufolge wird die Stimmenthaltung bei den nächsten Europawahlen schwindelnde Höhen erreichen. In den letzten Jahren ist diese Politikverdrossenheit stetig gestiegen, und zwar schon lange vor der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Ursachen für den Überdruss liegen auf der Hand. Um sie zu verstehen, sehen wir uns näher an, was in der EU vor sich geht.

1. Im Europa der 15 Staaten hat die Arbeitslosigkeit seit den achtziger Jahren stetig zugenommen und die Arbeitsbedingungen der erwerbstätigen Bevölkerung haben sich verschlechtert (der Anteil der arbeitenden Bevölkerung, die ihr Arbeitsumfeld als stressig empfinden, ist von 32 Prozent im Jahre 1991 auf 44 Prozent im Jahre 2005 gestiegen).

2. Die jährliche Wachstumsrate der öffentlichen Ausgaben für die Daseinsvorsorge (Renten, Gesundheitswesen, Wohnungsbestand) fiel kontinuierlich (von 6,2 Prozent im Jahre 1990 auf 4,8 Prozent im Jahre 2004).

3. Die soziale Sicherheit (bei Krankheit, Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit) hat abgenommen. Genau so verhält es sich mit dem Einkommen (,was man die Bruttolohnsumme nennt, welche von der Höhe der gezahlten Löhne und deren Anzahl abhängt) in Prozenten bezüglich des Sozialproduktes (von 68Prozent im Jahre 1975 auf 58 Prozent im Jahre 2005).

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Diese Daten sind Indikatoren dafür, wie sehr sich die soziale Situation von Arbeitern und Angestellten im Europa der 15 verschlechtert hat. Währenddessen sind die Kapitalerträge enorm angestiegen. Von 1999 bis 2006 kletterten die Gewinnraten der Unternehmen um 33 Prozent nach oben, während die Lohnkosten nur um 18 Prozent anwuchsen.

Ergebnis: Das soziale Ungleichgewicht wird immer größer. Und laut Umfragen ist sich die europäische Bevölkerung dessen bewusst. Nicht weniger als 78 Prozent der Bewohner der alten fünfzehn EU-Länder geben an, dass die Ungleichheit in ihrem Land zu groß ist.

Schuld an der sozialen Polarisierung der Einkommen ist eine Politik, die vom Brüsseler Konsens (europäisches Pendant des liberalen Washingtoner Konsens‘) angepriesen und von den europäischen Institutionen in die Tat umgesetzt wurde. Ihr folgten vor allem die europäische Kommission (die über die Einhaltung des Stabilitätspakts wachen soll, was zu Sparhaushalten führt) und die europäische Zentralbank (deren Geldpolitik der Finanzwelt sehr zu Gute kam, allerdings auf Kosten der Wirtschaftsbelebung und neuer Arbeitsplätze). Und auch dessen ist sich die Bevölkerung bewusst. Daher befinden sich die europäische Kommission und die europäische Zentralbank unter den am wenigsten geschätzten Institutionen. Und so lässt sich auch erklären, warum die untere Mittelschicht von Europa enttäuscht ist. Die Ersten, die vom Desinteresse betroffen sind, sind die Mitte-links Parteien. Denn ihre treuste Wählerschaft speist sich aus der sozialen Schicht, die am stärksten von der liberalen Politik betroffen ist – und allen voran die Arbeiter.

Wenn nun die Parteien der linken Mitte eine tiefe Krise durchlaufen, so liegt das daran, dass sie sich dem Liberalismus verschrieben haben, als sie an der Macht waren. Sie werden jetzt mit sich ins Gericht gehen müssen. Was die konservativen Parteien betrifft, so verdanken sie ihren Erfolg einer loyalen Wählerschaft, die sich aus einkommensstärkeren Schichten zusammensetzt, und von der liberalen Politik profitiert. Zu ihr gesellen sich einige Randgruppen der unteren Mittelschicht, die die soziale Unsicherheit in der EU am schwersten ertragen und so für nationalistische und einwanderungsfeindliche Parolen empfänglich sind. Denn die größten Rassisten sind nicht die Unwissenden, sondern die sozial Schwächsten.

Europawahl

Radikale sind Gewinner der Enthaltungen

"Während die Umfragen für den 7. Juni eine Wahlenthaltung von 70 Prozent vorhersagen, tosen in Brüssel Sorgen und Zweifel", schreibt Il Foglio.
"Wie der Analyst Thomas Kau meinen viele Experten, dass eine geringe Beteiligung den kleinen radikalen Parteien zu Gute kommen wird". Um die Euro-Apthatie zu erklären reicht es nicht, auf das alte Klischee des Bananengrößen und -rundungen messenden Parlaments zurückzugreifen. "Immerhin werden 85 Prozent der nationalen Gesetze in Brüssel gemacht, gibt die traditionell euroskeptische italienische Zeitung zu.

"Laut dem ehemaligen italienischen Regierungschef Giuliano Amato könnten die Regierungen die Wahlkampagne auf ein Minimum beschränken um einem Strafvotum wegen der Wirtschaftskrise zu entgehen", fügt die Zeitung hinzu.
"Bleibt jedoch das Problem, dass Europa unter einem Politisierungsmangel leidet. Bestes Beispiel hierfür ist der Kandidatenmangel um die Kommissionspräsidentschaft gegen José Manuel Barroso. Robin Shepherd von der Henry Jackson Society bekräftigt, dass Demokratie ohne 'Demos' unmöglich ist. Politische Loyalität fusst auf der Staatsangehörigkeit. Europa ist aber nunmal kein Staat. Parlamentspräsident Hans Gert Pöttering beschuldigt lieber die Medien, zum Scherbengericht aufzurufen. " Durch Konformismus dieser Art gelingt es den Euroskeptikern sich als einzige Opposition zu verkaufen."

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