Interview Feminismus und Gesellschaft

Ewa Majewska: „Beim Feminismus geht es darum, eine Gesellschaft in Frage zu stellen, in der es privilegierte und unterprivilegierte Menschen gibt“

Feminismus ist ein System, das es ermöglichen soll, die verschiedenen Formen von Unterdrückung und Ungleichheit zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Er spiegelt sich heute im Kampf der iranischen Frauen und in den Veränderungen wider, die sich nach den Wahlen in Polen abzeichnen. Ein Interview mit Ewa Majewska, polnische Philosophin und feministische Aktivistin.

Veröffentlicht am 5 Dezember 2023 um 17:52
Ewa Majewska

Ewa Majewska ist eine polnische Feministin, Aktivistin und Philosophin. Sie arbeitet an der SWPS-Universität in Warschau und ist Autorin von Feminist Anti-Fascism, Counterpublics of the Common (Verso Books, 2021). Das Interview wurde am Rande der International Marxist Feminist Conference geführt, die im vergangenen November in Warschau stattfand.

Was ist Ihrer Meinung nach Feminismus heute, und was sind seine wichtigsten Aufgaben?

Ich denke, die populärste Vorstellung von Feminismus hat viel mit der Gleichstellung von Männern und Frauen zu tun. Es ist eine liberale Vorstellung, die suggeriert, dass die Mission der Feminist*innen erfüllt ist, wenn Frauen den gleichen Status haben wie Männer. Aber das ist eine falsche Vorstellung von Feminismus.

Damit bin ich wirklich nicht glücklich, denn ich halte sie für sehr vereinfachend. Echter Feminismus, oder der Feminismus, mit dem ich zufrieden bin und den ich fördern möchte, ist eine Theorie und auch eine Praxis des politischen Handelns, die mit der Erfahrung beginnt, als Frau sozialisiert und erzogen zu werden und aufzuwachsen. Wir brauchen diese Theorie, Praxis und politische Handlungsfähigkeit, um verschiedene Versionen von Ungleichheiten, verschiedene Versionen von Diskriminierung und verschiedene Alternativen zum neoliberalen kapitalistischen Patriarchat zu verstehen.

Für mich wurzelt der Feminismus also in einer Version von sozial konstruierter Erfahrung, einer verkörperten Erfahrung, in der Menschen lernen, Menschen zweiter Klasse zu sein, und in der sie ihre emanzipatorischen Ansprüche aufbauen. Für mich reduziert sich Feminismus deshalb nicht nur auf Fragen von Mann-Frau oder Männlichkeit-Weiblichkeit. Es geht vielmehr darum, eine Version der Gesellschaft in Frage zu stellen, in der es privilegierte und unterprivilegierte Menschen gibt, in der „die natürliche Ordnung“ als etwas Hierarchisches angesehen wird. Eine Version der Gesellschaft, in der eine Art Führer*in oder Gottheit an der Spitze steht und in der es Männer und Frauen und Sklav*innen gibt, oder unterprivilegierte Menschen oder Menschen, die aus anderen Gründen – z. B. sexuelle Orientierung, Klasse, Religion oder ethnische Zugehörigkeit – diskriminiert werden.

Für mich ist Feminismus eine ziemlich weit gefasste Doktrin. Ich habe keine Angst davor zu sagen, dass es sich um eine große Ideologie handelt. Es ist eine umfassende Theorie, die mit der verkörperten und gesellschaftlich konstruierten Erfahrung von Weiblichkeit beginnt. Aber sie geht viel weiter und schließt die Erfahrung anderer diskriminierter Lebensformen ein. Sie entwirft Utopien oder Alternativen, die den Status quo in Frage stellen. Ein großer Teil des Feminismus ist auch Kritik an der bestehenden Gesellschaft. Und Selbstkritik. Das ist etwas, was Bell Hooks, eine meiner Lieblingsautorinnen, oft gesagt hat: dass der Feminismus manchmal diese erstaunliche Fähigkeit besitzt, sich selbst gegenüber übermäßig kritisch zu sein, die mitunter zu einem Hindernis wird.

Der Feminismus ist die soziale Bewegung und die Theorie, die von allen politischen Positionen, Theorien und Formen des Aktivismus wahrscheinlich am selbstkritischsten ist. Und das ist gut so, denn es bedeutet, dass wir versuchen, unsere theoretische Position, unsere politischen Forderungen, unsere Formen des Aktivismus, unsere Formen des Seins zu verändern. Und wir neigen dazu, das Problem auch auf unserer Seite zu sehen, nicht nur auf der Seite desjenigen, der kritisiert oder angefochten wird.

Für mich ist Feminismus ein Versuch, eine egalitäre Gesellschaft aufzubauen, die von Solidarität und Altruismus und nicht von Wettbewerb und Kampf geprägt ist. Ich glaube nicht, dass wir den Konflikt aus unserer Weltanschauung eliminieren müssen. Meiner Meinung nach können Feminist*innen sehr wohl dialektisch oder marxistisch sein. Aber ich denke, eine bestimmte idealistische Version der Gesellschaft wäre eine, in der diese Konflikte respektvoll und mit Rücksicht auf alle gelöst werden.

Das wäre der Unterschied zwischen meiner Vision des Feminismus und der liberalen Vision des Feminismus, in der wir uns auf Individuen und ihre Rechte konzentrieren und nicht auf das soziale Gefüge der Menschen. Die Version des Feminismus, die ich vertrete, hat auch einen hohen wirtschaftlichen Anspruch und steht im Widerspruch zur neoliberalen Wirtschaft. Ich denke also, dass die wettbewerbsorientierte Wirtschaft, die auf der Idee des unmittelbaren Profits basiert und die ungleiche Arbeitsteilung und Gewinne aufrechterhält, absolut im Widerspruch zum Feminismus steht.


Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Ich muss betonen, dass ein Großteil dessen, was für mich der feministische Kampf ist, uns lehrt, andere Kämpfe anzunehmen, einschließlich der Kämpfe von trans- und nicht-binären Menschen. Ich verstehe nicht, wie sich Menschen, die in irgendeiner Weise gegen trans- und nicht-binäre Menschen sind, als Feminist*innen bezeichnen können. Ich denke, das widerspricht der Grundannahme, nämlich dass es unrecht ist, aufgrund seiner Identität diskriminiert und unterdrückt zu werden.

Was dürfte Ihren Erwartungen zufolge nach den Wahlen in Polen in Bezug auf die Rechte der Frauen passieren?

In den nächsten drei oder vier Monaten werden wir vielen Kämpfen beiwohnen, vielen Verhandlungen und vielen Bemühungen, verschiedene Leute zu bestechen, um sie zu überzeugen, ihre politischen Positionen zu ändern. Aber ich erwarte noch etwas anderes. Was ich gerade beschrieben habe, war eine sehr konkrete Vorstellung von den politischen Manövern, die bevorstehen könnten. Es gibt jedoch noch eine andere Sache, die im Zusammenhang mit den Wahlergebnissen sehr wichtig ist. Ich und viele feministische Freundinnen hier in Polen teilen die Erfahrung, in einem anderen Land aufzuwachen. Und das ist extrem wichtig, denn in den letzten acht Jahren haben wir in einem Land gelebt, das von zwei Versionen dessen regiert wurde, was ich einen Ausnahmezustand nennen würde.

Auf der einen Seite gab es eine Menge faschistischer politischer Maßnahmen und Entscheidungen, die praktisch jeden Tag getroffen wurden. Es gab das Problem an der polnisch-belarusischen Grenze und die Gräueltaten an dieser Grenze gegen rassifizierte Geflüchtete. Wir hatten nicht nur antifeministische, sondern im Grunde frauenfeindliche Gesetze, die auf ein noch vehementeres Verbot der Abtreibung abzielten als das, das bereits bestand. Wir hatten Anti-LGBTQI+-Erklärungen, Stellungnahmen und Bemühungen, das Gesetz zu ändern. Es gab sehr tragische Momente im Zusammenhang mit der Arbeit.

Menschen starben am Arbeitsplatz aufgrund von Erschöpfung. So starben zum Beispiel Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen bei der Arbeit. Mindestens ein Mitarbeiter von Amazon ist während der Covid-Pandemie an Erschöpfung gestorben. Die Regierung hat in diesen Situationen nicht sehr viel unternommen. Im Grunde genommen herrschte bei uns der Ausnahmezustand, dass bestimmte Personengruppen als Feinde, als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden. Aber wir haben auch unter einem anderen Ausnahmezustand gelitten, der darin besteht, dass wir ständig durch politische Entscheidungen und Äußerungen provoziert werden, die sehr intensive und sehr schwierige Emotionen wie Angst, Wut und Besorgnis auslösen.

So haben wir acht Jahre lang gelebt. Jeder, der sich durch eine fortschrittliche Haltung und Denkweise auszeichnet, wachte täglich mit neuen Gräueltaten und neuen Hassreden der Regierung auf. Der größte Unterschied jetzt, nach der Wahl, ist, dass wir nicht mit diesem nagenden Gefühl der Angst aufwachen, der Angst vor einer neuen inakzeptablen politischen Entscheidung oder Situation, der wir uns stellen und gegen die wir vorgehen müssen. Wir sind erschöpft, nachdem wir acht Jahre lang gegen alles protestiert haben: für Frauen, für die Rechte von Homosexuellen, für Geflüchtete, für Arbeitnehmer*innen. All diese Kämpfe wurden täglich sehr intensiv geführt. Ich würde also sagen, dass wir auf der Seite der Opposition stehen, und hier mache ich keinen großen Unterschied zwischen den Linken und den Liberalen, denn viele Liberale waren wirklich damit beschäftigt, die konservative Regierung ebenfalls zu kritisieren. Wir sind erschöpft.

Im Moment werden wir einerseits eine Menge amüsanter Ereignisse auf der politischen Bühne erleben. Aber auf der anderen Seite haben wir zumindest nicht mehr diese Erschöpfung, diese Wut, diese Angst in unserem täglichen Gefühlsleben. Das ist eine fantastische Veränderung. 

Im September 2022 brachen im Iran große Proteste aus, bei denen es um feministische Kämpfe und Widerstand gegen strenge Kontrollen ging. Gibt es einen islamischen Feminismus? Handelt es sich um dieselbe Art von Feminismus, wie wir ihn im Westen kennen, oder gibt es Länder, in denen der feministische Kampf in Bezug auf die Handlungsfähigkeit anders aussieht?

Ich möchte zwei Bemerkungen zu der Art und Weise machen, wie Sie diese Frage stellen. Erstens beschreiben Sie die Situation im Iran sehr vorsichtig. Ich glaube, dass das, womit Frauen und ihre Verbündeten im Iran seit letztem Jahr, seit September letzten Jahres, zu kämpfen haben, eigentlich ein Völkermord an Frauen ist.

Dabei ging es nicht um Arbeitsbedingungen oder Friseurwesen oder etwas Ähnliches. Es ging vielmehr um die aktiven Bemühungen des iranischen Staates, Frauen auszulöschen, sie im Grunde zu töten. Die Situation war also viel dramatischer, als sie beschrieben wurde. Ich mache diese Bemerkung, damit wir mit einer leicht veränderten Wahrnehmung weitermachen können, denn ich würde den Protest im Iran nicht auf Frisuren oder Bildung oder Frauenrechte in dieser milden Form reduzieren. Ich würde sagen, es ging dort um das Recht, als Frau zu leben.

Und eine andere Sache ist, dass ich es sehr problematisch finde, über islamischen Feminismus zu sprechen, denn wenn wir über islamischen Feminismus sprechen wollen, müssen wir auch über katholischen Feminismus oder atheistischen Feminismus sprechen. Wir würden den Feminismus in religiöse, regionale oder kulturelle Kontexte einteilen, was man vermeiden sollte. Wir sprechen zum Beispiel nicht viel über europäischen Feminismus, vor allem weil er als so vielfältig wahrgenommen wird. Es gibt feministische Literatur, auch eine ganze postmoderne Variante.

Ich bin also nicht offen für die Idee des islamischen Feminismus, denn in den Ländern, die als islamisch gelten, gibt es Marxist*innen, Postmodernist*innen und Traditionalist*innen. Wissen Sie, Feminismen sind Feminismen. Sie werden nicht allein durch den kulturellen Kontext beeinflusst. Sie erwachsen aus der Ablehnung der Ungleichheit, der Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen, der Behandlung von Frauen als Ressource, als Quelle unbezahlter und unsichtbarer Arbeit, als Quelle der Reproduktionskraft. Und dieser Kampf ist in Polen, im Iran, in den USA, in Brasilien, überall sehr ähnlich. Für mich ist also das Konzept des islamischen Feminismus eine Idee, die aus Europa kommt, eine Idee, die auf unserem Versuch beruht, die Welt regional zu verstehen. Und ich glaube nicht, dass das die beste Art ist, die Welt zu betrachten.

Ich würde also über Frauen im Iran oder Feministinnen im Iran sprechen, aber ich würde sie nicht als islamische Feministinnen bezeichnen, weil sie vielleicht gegen den Islam sind oder eine bestimmte Version des Islams bewahren wollen, aber gleichzeitig zum Beispiel eine marxistische Wirtschaft fördern wollen.

In dieser Region, die als islamisch wahrgenommen wird, gibt es Frauen aus Westkurdistan, Palästinenserinnen und Iranerinnen. Es gibt Frauen im Irak und in Afghanistan, die leicht abweichende Versionen des Feminismus aufbauen. Aber was sie eint, ist nicht der Islam. Das ist nicht das Hauptthema der Feministinnen. Nirgendwo, nicht einmal in Ländern, in denen der Islam die größte Religion ist, ist es das Hauptthema.

Ihre Hauptsorge gilt immer der Situation und der Stellung der Frau, aber auch all jenen Bereichen der Kultur, der Gesellschaft, der Wirtschaft, die als weiblich wahrgenommen werden: die soziale Reproduktion, die unsichtbare Arbeit, der Pflegebereich und andere Bereiche, in denen das, was als kulturell weiblich wahrgenommen wird, gleichzeitig missbraucht und diskriminiert wird. Und ich denke, dass die Frauen in den islamischen Regionen der Welt, wie überall auf der Welt, sehr unterschiedliche Antworten auf diese Probleme haben.

Was ich an den Frauen in islamischen Ländern, die für Rechte und Gleichberechtigung und für den Feminismus kämpfen, bewundere, ist, dass sie erstaunlich mutig sind. Der Mut, in diesen Teilen der Welt eine Feministin zu sein, ist wirklich erstaunlich. Das wäre vielleicht der einzige Unterschied, den ich sehe.

Die ursprüngliche und vollständige Version dieses Artikels auf Crossbordertalks.eu

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie Journalismus, der nicht an Grenzen Halt macht.

Nutzen Sie unsere Abo-Angebote oder stärken Sie unsere Unabhängigkeit durch eine Spende.

Zum gleichen Thema