Data Femizide

Gewalt gegen Frauen in Europa 

Haben Femizide während der Pandemie drastisch zugenommen? Dieser Frage sind 18 Redaktionen aus ganz Europa nachgegangen. Gemeinsam haben sie aktuelle Daten aus 22 EU-Ländern gesammelt, um eine bisher einzigartige grenzüberschreitende Studie zu dem Thema zu veröffentlichen.

Veröffentlicht am 8 März 2023 um 18:20

“Mit jedem neuen Mal kommt alles wieder hoch. Es ist schrecklich. Ich denke immer: 'Diese arme Mutter, dieser arme Vater, was die jetzt gerade durchmachen.” Für Katerina Koti, die Mutter der 31-jährigen Dora Zacharia, die im September 2021 in Rhodos von ihrem Ex-Freund wenige Tage nach ihrer Trennung ermordet wurde, ist jede neue Meldung über den Mord an einer Frau eine weitere Tragödie. Ihre Tochter Dora war das 11. Opfer in diesem Jahr und es sollten noch viel mehr werden... 

Letzten Sommer verloren drei Frauen in weniger als 48 Stunden in Griechenland ihr Leben. Sie alle wurden von ihren Partnern getötet. Morde an Frauen durch ihre aktuellen oder ehemaligen Partner sind in Griechenland seit langem stark verbreitet und haben während der Corona-Pandemie offenbar ihren Höhepunkt erreicht. Und dieses Phänomen betrifft nicht nur Griechenland: In Spanien gab es Anfang des Jahres allein an einem Tag vier Morde an Frauen in verschiedenen Städten. Ähnlich düstere Berichte gibt es auch aus anderen europäischen Ländern. Sie heizen die Debatte darüber an, ob Frauenmorde als eigenständiges Verbrechen anerkannt werden sollten. Bislang haben nur zwei europäische Staaten, Zypern und Malta, diesen Schritt gewagt. 

Doch wie sieht die Lage derzeit aus? Hat die Zahl der Frauen, die von ihren Partnern oder Verwandten ermordet werden, in den letzten Jahren wirklich so drastisch zugenommen? Steht diese Entwicklung in Zusammenhang mit einer allgemeinen Zunahme der geschlechtsspezifischen Gewalt, insbesondere der häuslichen Gewalt während der Covid-19-Pandemie? Ist die Zahl der Femizide in Europa tatsächlich gestiegen? Und welche Länder haben die größten Schwierigkeiten, Gewalt gegen Frauen einzudämmen?

Die grenzüberschreitende Datenanalyse von MIIR-EDJNet 
Die Antworten auf diese Fragen sind schwer zu finden, da auf EU-Ebene keine offiziellen Daten für die Zeit nach 2018 veröffentlicht wurden. Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE), das für die Durchführung von Forschungsarbeiten und die Überwachung politischer Maßnahmen im Bereich Gewalt gegen Frauen zuständig ist, hat 2020 eine Datenerhebung begonnen, deren Ergebnisse jedoch nicht vor 2024 veröffentlicht werden sollen. Das bedeutet, dass die EU bis dahin kein genaues Bild darüber haben wird, wie viele Frauen in Europa Opfer von Gewalt und Mord werden, obwohl Frauen die Hälfte der europäischen Bevölkerung ausmachen! 

Um dem entgegenzuwirken, hat das MIIR zusammen mit 17 europäischen Medien im Rahmen des EDJNet versucht, eine aktuelle Studie zum Thema Gewalt gegen Frauen in Europa zu erstellen. Durch die von den nationalen Behörden für den Zeitraum zwischen 2010-2021 zur Verfügung gestellten Daten konnte das MIIR eine neue Datenbank erstellen, die wichtige Erkenntnisse über geschlechtsspezifische Gewalt in der EU liefert. Unter Mitwirkung des iMEdD Lab wurden die Daten analysiert, wobei der Schwerpunkt auf den Jahren während der Covid-19-Pandemie liegt.

Ein erschreckendes Datenloch zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt in der EU

Die Gesamtzahl der Femizide wird im Zeitraum von 2010 bis 2021 in den 20 EU-Ländern, die ihre Daten dazu zur Verfügung gestellt haben, auf 3232 geschätzt. Für acht EU-Mitgliedstaaten (Polen, Bulgarien, Dänemark, Luxemburg, Belgien, Portugal, Irland, Rumänien) sind jedoch keine Daten verfügbar. Die oben genannte Zahl lässt vermuten, dass die Polizeibehörden viel zu wenig Fälle erfassen. Denn im Vergleich dazu gab es laut Eurostat-Daten 6593 vorsätzliche Tötungen von Frauen in Europa zwischen 2011 und 2021, darunter 4208 durch Partner und 2385 durch Verwandte. Diese Zahlen betreffen Österreich, Kroatien, Zypern, die Tschechische Republik, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Italien, Lettland, Litauen, Malta, die Niederlande, Serbien, die Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, also insgesamt 20 EU-Länder. 

Sowohl für die Forschung als auch für die politische Entscheidungsfindung ist der Mangel an aktuellen Daten ein großes Problem. Die EDJNet-Mitglieder haben festgestellt, dass die Veröffentlichung aktueller Daten durch staatliche Organisationen äußerst lückenhaft ist. Hinzu kommt das Fehlen von Daten mit ähnlichen und somit vergleichbaren Merkmalen. “Aufgrund des Mangels an vergleichbaren EU-weiten Daten erhält die EU im Bereich der Gewalt keine Punktzahl”, so das EIGE

Explosion von Femiziden 

Um pertinente Ergebnisse zu erhalten, haben wir uns aufgrund der unvollständigen Daten und der von Land zu Land unterschiedlichen Methoden zur Erfassung von Femiziden dafür entschieden, auf der Grundlage des EIGE-Index nicht die absoluten Zahlen zu vergleichen, sondern die prozentuale Entwicklung der Femizide in den Ländern, für die Daten vorliegen. Darüber hinaus wurden die Daten pro 100.000 Frauen in den jeweiligen Ländern berechnet.

Den höchsten Anstieg der Femizide im Jahr 2021 verzeichnete Griechenland mit 23 Fällen im Vergleich zu 8 im Jahr 2020 (+ 187,5 %). Schweden verzeichnet ebenfalls einen sprunghaften Anstieg mit + 120 % im Jahr 2018 im Vergleich zum Vorjahr, während Estland und Slowenien einen Anstieg um 100 % im Jahr 2015 bzw. 2020 verzeichneten. Vergleicht man die Daten für den zweijährigen Pandemiezeitraum mit dem Jahr 2019, so zeigt sich, dass Griechenland, Slowenien, Deutschland und Italien einen deutlichen Anstieg von Femiziden verzeichnen.


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Für ihre Studie sammelten die Redaktionen auch Daten aus inoffiziellen Quellen, z. B. von lokalen Überwachungsgruppen für die Erfassung von Femiziden. Solche Organisationen überwachen meist die Medienberichterstattung mit dem Ziel, der Unterberichterstattung über Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken. Diese Methode wurde gewählt, um die offizielle Zahl der Femizide mit der inoffiziellen vergleichen zu können.

Die Auswertung der Eurostat-Daten über vorsätzliche Tötungen von Frauen durch Männer, Partner oder Verwandte bestätigt für Griechenland einen ähnlichen Anstieg von 156 % im Jahr 2021 gegenüber 2020. Die Analyse zeigt außerdem, dass Slowenien im ersten Jahr der Pandemie einen 100%igen Anstieg der Tötungsdelikte an Frauen durch Intimpartner und Verwandte im Vergleich zu 2019 verzeichnete. Es folgen Kroatien, Österreich und Ungarn mit einem Anstieg von jeweils 55,6 %, 28,6 % und 26,1 %.

Cristina Fabre Rosell arbeitet als Teamleiterin für geschlechtsspezifische Gewalt am Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen und erklärt, dass die Zahl der Femizide während des ersten Lockdowns zwar relativ zurückging, das Risiko aber weiter bestand: 

“Frauen waren während der Pandemie weniger von Femiziden bedroht, weil sie mit den vermeintlichen Tätern ständig zusammen waren und diese sich daher sicherer fühlten. Die Männer hatten während dieser Zeit genug Kontrolle über ihre Partnerinnen. Die Gewalt in Paarbeziehungen hat damals zugenommen, aber nicht in Form von Femiziden. Besorgniserregender war für uns die Zeit nach dem Lockdown. Wir wussten nicht, welche Maßnahmen wir ergreifen sollten, um Frauen zu schützen, die vor ihren Tätern geflüchtet waren. Unsere Befürchtung war also, dass Femizide durch Initimpersonen erst nach den Lockerungen der Corona-Maßnahmen zunehmen würden, was auch tatsächlich in einigen Mitgliedstaaten geschehen ist. Aber wir sind immer noch nicht in der Lage, festzustellen, ob es sich um ein allgemeines Phänomen handelt, das in allen EU-Mitgliedstaaten auftritt und ob es einen direkten Zusammenhang mit den Lockerungen gibt.”

Zunahme von Gewalt gegen Frauen

Die Aussagen des EIGE-Teamleiters für geschlechtsspezifische Gewalt werden durch die Analyse anderer EIGE-Indikatoren für physische, psychische, wirtschaftliche und sexuelle Gewalt bestätigt. Die folgende Grafik zeigt, wie sich die Zahl der Opfer von verschiedenen Arten von Gewalt in den letzten Jahren entwickelt hat. 

“Ich glaube, dass wir psychische Gewalt jetzt konzeptionell erfassen und dass die Menschen sich bewusster werden, was psychische Gewalt ist und welche enormen Auswirkungen sie hat. Das ist ein Trend, den wir beobachten: Immer mehr Opfer sind sich bewusst, dass dies inakzeptabel ist, dass es sich um ein Vergehen und um Gewalt handelt”, erklärt der Leiter des EIGE-Teams für geschlechtsspezifische Gewalt. 

Nach Angaben des EIGE sind mindestens 44 % der Frauen in Europa schon einmal psychischer Gewalt durch ihren Partner ausgesetzt gewesen. Es scheint jedoch Länder zu geben, denen es gelungen ist, diese Entwicklung zu drosseln, wie Serbien und Deutschland, wo der Anstieg im ersten Jahr der Pandemie auf 3,4 % bzw. 1,5 % begrenzt war.

Weniger Berichte gibt es über wirtschaftliche Gewalt gegen Frauen. Damit ist eine erdrückende finanzielle Kontrolle oder das finanzielle Ausbluten einer Frau durch ihren aktuellen oder ehemaligen Lebenspartner gemeint. Von den zehn Ländern, in denen darüber Daten vorliegen, verzeichneten sechs einen Anstieg und vier einen Rückgang zwischen 2015 bis 2018. Was den Indikator für sexuelle Gewalt anbelangt, so verzeichneten Griechenland, Serbien und Slowenien in den Jahren der Pandemie einen erheblichen Anstieg. 

Auf der Grundlage der Eurostat-Daten verzeichnen Ungarn und Griechenland mit 41,2 % bzw. 36,5 % den größten Anstieg der gemeldeten Vergewaltigungen von Frauen im Jahr 2020, gefolgt von Rumänien und Slowenien. 

Die Nachlässigkeit der Behörden kostet Leben

In einer historischen Entscheidung hat der Europäische Rat am 22. Februar 2023 nach sechs Jahren Verzögerung aufgrund des ständigen Widerstands verschiedener Mitgliedstaaten beschlossen, dass die EU der Istanbul-Konvention als transnationale Einheit beitreten soll. Dies folgte der Zustimmung des Europäischen Parlaments, das zuvor die Aufnahme von Gewalt gegen Frauen in die Liste der anerkannten Straftaten in der EU gefordert hatte. Das Übereinkommen, das seit 2014 in Kraft ist, ist der erste rechtsverbindliche internationale Text, der Kriterien für die Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt festlegt, und könnte als Leitfaden für Folgeinitiativen in Brüssel dienen.

Am 25. November 2022, dem Internationalen Tag zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, hatte die Europäische Kommission das Europäische Parlament aufgefordert, so schnell wie möglich einen Richtlinienvorschlag zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu verabschieden, der im vergangenen März vorgelegt wurde. Die Richtlinie zielt unter anderem darauf ab, in der EU-Gesetzgebung Mindeststandards für die Kriminalisierung bestimmter Formen von Gewalt gegen Frauen, für den Schutz der Opfer und die Verbesserung des Zugangs zur Justiz, für die Unterstützung der Opfer und die Koordinierung zwischen den einschlägigen Diensten sowie für die Präventionsarbeit zu verankern.

In der Richtlinie wird zudem vorgeschlagen, die Datenerhebung endlich EU-weit verbindlich zu machen. Über das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen wird zu wenig berichtet und wie bereits erwähnt, sind die Daten zwischen den EU-Ländern nicht ohne Weiteres vergleichbar. In der Richtlinie wird erwähnt, dass die letzte einschlägige europaweite Erhebung im Jahr 2014 veröffentlicht wurde.

In jedem Fall ist klar, dass ohne ein gemeinsames europäisches System zur Erfassung von Gewalt gegen Frauen und die Stärkung des Opferschutzsystems, die Durchsetzung der Gesetze und die Überprüfung der Strafen für die Täter sowie die systematische Aufklärung junger Menschen über Geschlechtsidentität und sexuelle Beziehungen die geschlechtsspezifische Gewalt weiter florieren wird. Es besteht natürlich immer die Möglichkeit, dass niemand etwas davon erfährt, weil die Vorfälle nicht registriert werden…

👉 Originalartikel auf MIIR

Quellen und Methodik

Die Studie stützt sich auf zwei primäre Datenquellen. Die erste sind die EIGE-Indikatoren für die Erfassung von Gewalt in Paarbeziehungen gegen Frauen und Femizid durch männliche Täter, wie sie im Gleichstellungsbericht 2021 enthalten sind, der Daten bis zum Jahr 2018 enthält. Das EIGE definiert “Gewalt in der Partnerschaft” als jede Form von körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die zwischen ehemaligen oder derzeitigen Ehepartnern oder Lebensgefährten ausgeübt wird, unabhängig davon, ob sie im selben Haus leben. Die an der Untersuchung beteiligten Teams bemühten sich um möglichst aktuelle Daten, die auf Grundlage der Leitlinien des EIGE geprüft wurden. 

In Bezug auf “Femizid” ist es erwähnenswert, dass das EIGE die statistische Definition der “Tötung einer Frau durch einen Intimpartner und den Tod einer Frau infolge einer für Frauen schädlichen Praktik” übernimmt und Verbrechen im Zusammenhang mit diesen Merkmalen dem “Indikator 9” zuordnet, der den Tod von Femizidopfern ab 18 Jahren erfasst. 

Als zweite Quelle und Instrument zur informellen “Überprüfung” der Ergebnisse wurden Eurostat-Datenbanken herangezogen, die bis zum Jahr 2020 Daten zu vorsätzlichen Tötungsdelikten, Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen, bei denen der Täter ein Partner oder ein Familienmitglied ist, sowie Informationen zu den strafrechtlichen Sanktionen gegen die Täter liefern. 

An der Studie beteiligte Medien

Diese grenzüberschreitende datengestützte Studie wurde vom Mediterranean Institute for Investigative Journalism (MIIR.gr) im Rahmen des European Data Journalism Network organisiert und koordiniert. Die Datenanalyse und -visualisierung wurde von iMEdD Lab (Inkubator für Medienbildung und -entwicklung) durchgeführt; die Überprüfung der Datenanalyse erfolgte durch Kelly Kiki (iMEdD Lab).  

14 weitere EDJNet-Mitglieder beteiligten sich an dieser Untersuchung, die von Oktober 2022 bis Februar 2023 durchgeführt wurde: Deutsche Welle (Deutschland), Openpolis, OBC Transeuropa (Italien), Civio, El Confidencial (Spanien), Divergente (Portugal), CINS (Serbia), Pod črto (Slowenien), BIQdata/Gazeta Wyborcza, Frontstory.pl (Polen), Deník Referendum (Serbien), EUrologus/HVG (Ungarn), PressOne (Rumänien), Journalism++ (Schweden). Drei weitere Redaktionen steuerten Daten aus ihren jeweiligen Ländern bei: Atlatszo (Ungarn), Investigace (Tschechische Republik) und Noteworthy (Irland). EfSyn ist der Hauptveröffentlichungspartner.

In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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