Opinion Friedensnobelpreis

Frontex – Warum die EU den Friedensnobelpreis nicht verdient hat

Vor zehn Jahren wurde die EU mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Seither hat sie jedoch ihre Außengrenzen verstärkt und Frontex aufgerüstet – das verleiht dem Ganzen einen bitteren Beigeschmack. Ursprünglich sollte der Preis zur Entmilitarisierung beitragen.

Veröffentlicht am 18 Oktober 2022 um 13:15

Mit der Unterzeichnung seines Testaments am 27. November 1895 verfügte Alfred Nobel, dass ein Großteil seines Vermögens als Preisgeld für große Verdienste dienen sollte. Er muss geahnt haben, dass dieses Vorhaben auf Gegenwind stoßen würde. Und tatsächlich waren nicht nur Teile seiner Verwandtschaft dagegen, sondern auch der damalige schwedische König Oskar II., der die Idee als absurd und anti-patriotisch bezeichnete.

Nach einem langen Rechtsstreit mussten Nobels Gegner ihre Niederlage eingestehen. Die fünf Nobelpreise wurden eingeführt – darunter auch der Friedensnobelpreis, der an die Personen verliehen werden soll, die am meisten „zur Brüderlichkeit zwischen verschiedenen Nationen, zur Abschaffung oder Verkleinerung bestehender Armeen und zum Aufbau von Friedenskongressen” beigetragen haben.

Dennoch wurde Nobels letzter Wille auch nach dem Urteil nicht immer berücksichtigt: Nach Angaben des norwegischen Juristen und Betreibers der Website The Nobel Peace Prize Watch Fredrik S. Heffermehl wurden zwischen 1946 und 2008 über die Hälfte aller Friedensnobelpreise „nicht rechtmäßig” verliehen, also unter Verletzung der testamentarischen Bestimmungen. Der Preis sei ursprünglich nicht als Förderung für „,den Frieden’ im Allgemeinen, sondern für Aktivisten im Kampf gegen den Militarismus” gedacht gewesen, so Heffermehl in einem Interview 2014.

Vor genau zehn Jahren, am 12. Oktober 2012, wurde dieser Preis an die Europäische Union verliehen – „für ihren Beitrag zum Frieden, zur Versöhnung verschiedener Staaten, zur Demokratie und zur Einhaltung der Menschenrechte in Europa.” Und schon vor zehn Jahren wurde die Auszeichnung kontrovers diskutiert: Schließlich bedeutete die von Vielen kritisch beobachtete Konfliktfreiheit innerhalb der EU nicht, dass die Staatengemeinschaft keinen Krieg führte. Vielmehr waren auch damals mehrere EU-Staaten in NATO-Konflikte verwickelt oder an Waffenlieferungen beteiligt.

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Und alle haben brutale Maßnahmen und Gewalt gegen etwas unterstützt, was auch heute noch oft als gefährliche Invasion dargestellt wird: Die Ankunft von schutzsuchenden Männern, Müttern, jungen Frauen und Kindern, die in der EU arbeiten, studieren und ihre Familien wiederfinden wollen.

Die ersten bewaffneten Beamten an den EU-Außengrenzen

2012 war Frontex, die europäische Agentur zur Koordination und Unterstützung der Mitgliedstaaten beim Schutz der EU-Außengrenzen, bereits seit sieben Jahren im Einsatz. Sie war zwar bei der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, hatte sich aber bereits einen sehr schlechten Ruf eingehandelt: Frontex galt als intransparent, war mitverantwortlich für die Kriminalisierung von Flucht und Migration und es gab keine Mechanismen zur Kontrolle ihrer Arbeit. Außerdem sind zwar alle Frontex-Beamten in Warschau Zivilisten, das polizeiliche Personal, die Küstenwache und der Grenzschutz hingegen werden von den Mitgliedstaaten gestellt.

Die Verabschiedung einer Reform der EU-Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache im Jahr 2019 zeigt eindeutig, dass die EU den Friedensnobelpreis nicht hätte bekommen dürfen: Die Zollbehörde Frontex wurde militarisiert. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU-Institutionen durften Beamte Waffen tragen. Während Frontex diese Veränderung mit Stolz trägt, ist sie doch extrem besorgniserregend.

Bis 2027 sollen bei Frontex dauerhaft 10.000 Personen angestellt sein, davon 3.000 Beamte der Europäischen Union (aus der Kategorie 1, sogenannte Statusbeamte von Frontex) und 7.000 “von den Mitgliedstaaten an die Agentur abgeordnete” Beamte. Im Mai 2022 hat die Agentur 835 Beamte der Kategorie 1 eingestellt, die aufgrund unvorhersehbarer juristischer Hürden bis heute nur geliehene Waffen zu besitzen scheinen. Dies kann einem von Statewatch veröffentlichten Dokument des Europarats entnommen werden.

Seit einer bereits 2016 eingeführten Reform darf Frontex „technisches Material” kaufen. In den Augen der Behörde „schloss diese Kategorie auch Schusswaffen mit ein”, erklärt Matthias Monroy, Wissenschaftler und  Betreiber des Blogs „Security Architectures in the EU”. Aber diese Interpretation war falsch, sodass die EU-Kommission eingreifen und detailliert erläutern musste, unter welchen Bedingungen Frontex Waffen erwerben, transportieren und aufbewahren durfte.

Seither hat Frontex mit Griechenland und Litauen eine Vereinbarung geschlossen, die Waffenlieferungen garantieren soll, ohne den „Austausch mit der Industrie” zu unterbrechen. Dafür wurde im Oktober 2021 mit dem österreichischen Unternehmen Glock ein Kaufvertrag für die Lieferung von „halbautomatischen Waffen, Munition und Zubehör” in Höhe von 3,76 Millionen Euro geschlossen.

Den Großteil dieser Informationen haben wir nur, weil wir die richtigen Fragen gestellt haben”, sagt M. Monroy. Damit spielt er auf die parlamentarischen Anfragen der deutschen EU-Abgeordneten Özlem Demirel (Fraktion Die Linke im Europäischen Parlament, GUE/NGL) an, die sagt: „Wir beobachten dieselbe Tendenz in der europäischen Verteidigungspolitik, wenn es um den Aufbau einer europäischen Armee geht. Es ist keine ständige Einsatztruppe, die es schon ab morgen geben soll, aber wir müssen Veränderungen in diese Richtung unbedingt kritisieren. Die Aufrüstung der Europäischen Union hat mit der Militarisierung der Grenzen bereits begonnen.

Und diese Aufrüstung geht mittlerweile über die Grenzen der EU hinaus: Seit 2019 kann Frontex Vereinbarungen mit nicht an die EU grenzenden Drittstaaten treffen und den europäischen Beamten in diesen Ländern so umfassende Immunität verleihen (die Wissenschaftlerin Martina Previatello hat eine detaillierte Analyse zu solchen Vereinbarungen veröffentlicht). Dadurch können europäische Beamte innerhalb und außerhalb der EU eingesetzt werden, um „die europäischen Grenzen zu schützen”. Sie dürfen nach dem Gesetz Gewalt einsetzen, um Schutzsuchende auf den „illegalen” – und einzigen – Routen festzunehmen, abzufangen, abzuweisen oder in ihr Herkunftsland zurückzubringen.

Die einzige Instanz, bei der diese Beamten Rechenschaft ablegen müssen, ist ihr Vorgesetzter, der geschäftsführende Direktor bei Frontex. Dieser arbeitet absolut autonom und „wird vom Frontex-Verwaltungsrat berufen”, erklärt Monroy. Im Verwaltungsrat sitzen Vertreter der EU-Kommission und der Mitgliedstaaten, „aber auf operationeller Ebene kann niemand Frontex Anordnungen erteilen.” Selbiger Verwaltungsrat hat im Januar 2021 der Gründung eines Komitees zum Thema Gewaltanwendung durch die Beamten der Kategorie 1 zugestimmt. Es hat jedoch lediglich eine beratende Funktion und wird noch dazu vom geschäftsführenden Direktor selbst zusammengestellt.


Dadurch können europäische Beamte innerhalb und außerhalb der EU eingesetzt werden, um „die europäischen Grenzen zu schützen”


Das größte Problem ist die demokratische Kontrolle”, unterstreicht Monroy und verweist auf den Vertrag von Lissabon, mit dem die Agenturen genau wie alle anderen europäischen Institutionen mächtiger und unabhängiger geworden sind: „Aber als diese Entscheidung getroffen wurde konnte sich niemand vorstellen, dass Frontex zehn Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags bewaffnet sein würde. Es gibt keinen Weg zurück. 

Die Europäische Union hat ein Meer aus Möglichkeiten geschaffen und Frontex hat das Kriegsschiff gewählt.

1893 schrieb Alfred Nobel an eine österreichische Schriftstellerin und Pazifistin, seine enge Freundin Bertha von Suttner: „Mit einem Teil meines Vermögens möchte ich einen Preis finanzieren, der alle fünf, sagen wir sechs Jahre verliehen werden soll. Denn wenn wir in dreißig Jahren das aktuelle System nicht reformiert haben, kehren wir sicherlich zur Barbarei zurück. Es soll immer die Person den Preis bekommen, die Europa am schnellsten in Richtung eines allgemeinen Pazifismus leitet.

Alfred Nobel starb 1896, Bertha von Suttner 1914 und Europa verfiel der Barbarei früher, als Nobel prognostiziert hatte. Sicherlich ist das europäische Projekt mit dem Wunsch nach Frieden entstanden – aber zu welchem Preis? In ihrem Buch Eurafrica: the untold history of european integration and colonialism (Bloomsbury, 2014) beschäftigen sich die Historiker Peo Hansen und Stefan Jonsson mit der „Vergangenheit, die Europa vergessen hat”: der kolonialistischen Dimension des europäischen Projekts, die auch die Vehemenz erklärt, mit der sich die EU seit Jahrzehnten vor einem ganzen Kontinent verschließt.

Schon 2012 hat die EU den Friedensnobelpreis nicht verdient. Seit sie einen Teil ihres Personals bewaffnet hat und gegen Zivilisten vorgeht, die sie eigentlich beschützen sollte, verdient sie die Auszeichnung noch weniger.

Abolish Frontex und die belgische Organisation Agir Pour La Paix haben eine „Rücknahmefeier” für den an die EU verliehenen Friedensnobelpreis angekündigt. Stattfinden soll die Veranstaltung im Dezember in Brüssel – Alfred und Bertha würde diese Geste zweifelsohne gefallen.


Der OLAF-Bericht, oder: wie Frontex illegale Pushbacks vertuscht hat

FragDenStaat, Der Spiegel und Lighthouse Reports haben einen vertraulichen Berichtveröffentlicht, in dem die EU-Antibetrugsbehörde OLAF bestimmte Frontex-Führungskräfte “schwerer Fehler” beschuldigt. Dabei geht es um nicht gemeldete illegale Pushbacks an der griechischen Grenze. Der Bericht resultierte in der Entlassung des ehemaligen Frontex-Chefs Fabrice Leggeri und bestätigt, was verschiedene NGOs schon seit langem anprangern.

Dem Bericht zufolge hat Frontex potenzielle Menschenrechtsverletzungen vor ihren Beauftragten für Grundrechte verheimlicht und mehrere Luftüberwachungsoperationen ausgesetzt, um keine illegalen Aktivitäten der Grenzbeamten bezeugen zu können. Außerdem soll die Behörde griechische Abschiebe-Einheiten mitfinanziert haben und die wenigen Institutionen, die Frontex beaufsichtigen, getäuscht haben.


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