Nachrichten Wohin steuert die Union? / 6

Gebt den Behörden die Zügel

Genau dann, als es die Einführung der Einheitswährung erfordert hätte, blieb Europa ohne echte Führung. Angesichts der Euro-Krise und der Fragmentationsgefahr der EU ist es höchste Zeit, dass die nationalen politischen Verantwortungsträger wirklich unabhängigen europäischen Behörden weichen.

Veröffentlicht am 23 Juni 2010 um 15:29

Eine entscheidende Beschleunigung der europäischen Integration, die auf neuen Verteilungen der Souveränität beruht, ist die einzige überzeugende Antwort auf den Spekulationsdruck, dem die Einheitswährung ausgesetzt wurde. Sogar der Internationale Währungsfonds hat die Regierungen dazu aufgefordert, den Übergang von der Währungsunion zur Wirtschaftsunion zu beschleunigen. Es gibt keinen anderen Weg. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit sowie die Krisen, die Europa zum Voranschreiten gezwungen haben, können nützlich sein. Doch diesmal steht der neue Elan vor einer wankelmütigen Öffentlichkeit, vor einem abschlaffenden gemeinschaftlichen Zusammenhalt, vor der Ablehnung einer als Zwang empfundenen Integration, vor zunehmenden radikalen und populistischen Bewegungen, welche Lokalismus und Separatismus verfechten (siehe die Wahlergebnisse in Belgien), sowie vor einer breiten, tadelnswerten Gleichgültigkeit.

Dazu kommen die Fragen, die man sich über Deutschland stellt: Ist seine Liebschaft mit Europa vorüber oder wird sie – mit einer leichten Kursangleichung und der Stabilitätskultur im deutschen Stil als Anhaltspunkt – weitergehen? Es scheint mir, dass die Kanzlerin Angela Merkel sich zwar weiterhin für den Euro engagiert, sich dabei aber nicht etwa auf eine Rhetorik der Solidarität, sondern auf die Vorteile des zu fahrenden Sparkurses für die Bürger der Union stützt. Dass sich heute endlich eine echte Debatte über die zukünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU abzeichnet, ist ihr zu verdanken.

Der Urfehler: Große Nationen fürchten eigenen Schatten

Angesichts des schweren Sturms, der über den Euro hereingebrochen ist, müssen auch die Fehler identifiziert werden – sei es nur, um sie nicht zu wiederholen – und wir müssen verstehen, wo wir uns geirrt haben: Große Nationen haben Angst vor ihrem eigenen Schatten; gerade als die Einführung der Einheitswährung und die Verstärkung der Institutionen einen neuen Schritt nach vorne verlangt hätten, blieb Europa ohne führenden Kopf; es ließ sich auf Streitereien ein, angefangen bei der wenig glorreichen Spaltung über den Irak-Konflikt 2003. Da jeder Fehler einen weiteren nach sich zog, wollen wir hier ein paar von ihnen durchgehen.

1. Die Supranationalität (oder geteilte Souveränität) wurde der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit geopfert, die Folge davon war die Schwächung der Kommission, die doch der Garant der allgemeinen Interessen sein sollte. 2. Die Abneigung der Öffentlichkeit gegen die Erweiterung der europäischen Grenzen nach Osten wurde unterschätzt, um nicht zu sagen ignoriert, trotz der gescheiterten Erweiterung auf Bulgarien und Rumänien. 3. Durch das Ungleichgewicht zwischen der rituellen Wiederholung der Zielsetzungen – ein Europa, das sich einstimmig an die Welt richtet, eine gemeinsame Vertretung in den internationalen Institutionen usw. – und den tatsächlichen Ergebnissen büßte Europa an Glaubwürdigkeit ein.

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Europa zahlt den Preis, sich auf seinen Lorbeeren ausgeruht zu haben

4. Nach und nach zersetzte sich das Bewusstsein, dass man nationale Interessen vertritt, indem man Europa aufbaut und nicht indem man korporatistische Interessen wahrt. 5. Das Potential, das ein Universitätsaustausch wie Erasmus bietet, blieb unausgelastet, während es doch unerlässlich ist, um eine zukünftige, kontinentweite Öffentlichkeit zu bilden. 6. Die unglückselige Verwechslung von multiethnischer und multikultureller Gesellschaft wird durch die allgemein aufgebaute, undurchsichtige europäische Immigrationspolitik aufrecht gehalten.

7. Und schließlich der Fehler mit den verheerendsten Folgen: Die Regierungen haben sich auf ihren Lorbeeren ausgeruht, obwohl sie wussten, dass die Einführung der Einheitswährung ein kalkuliertes Risiko war, eine Versicherung gegen alte Dämonen, ein Stabilisierungsinstrument, das durch eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik ergänzt werden musste. Es wurde nicht viel getan und vor allem wurden die Regeln der Eurozone nicht ernst genommen. Es musste erst ein Spekulationsangriff auf die Einheitswährung erfolgen, bevor ihnen wirklich bewusst wurde, dass die Institutionen, welche die Stabilität des Euros wahren sollten, dafür nicht geeignet waren. Und jetzt muss der Preis gezahlt werden.

Statt Superstaat, Union mit einheitlichem Charakter

Die generalistische Sprache des offiziellen Europäismus wird also von den Gegnern Europas interpretiert und nicht von denen, deren Wahrheiten schwer zu schlucken waren. Zu letzteren gehören die Erklärungen des ehemaligen italienischen Präsidenten Carlo Azeglio Ciampi über die Notwendigkeit einer Wirtschaftsregierung und die Äußerungen Angela Merkels gegen den Beitritt der Türkei. Der Europäismus steht wieder auf dem Prüfstand: Es geht heute darum, seine Fähigkeit zu testen und wieder zu einem Weg zu finden, der die Märkte und die Öffentlichkeit überzeugt.

Auch muss geduldig eine politische und soziale Harmonie unter den 27 angestrebt werden. Sind die Regierungen dazu ausreichend beherzt und klarsichtig? Die Verstärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts kann nur von Dauer sein, wenn zu seiner Unterstützung erneut der Wille besteht, in die Fertigstellung der Währungsunion, in die Auswertung des noch ungenutzten Kapitals des gemeinsamen Marktes und in die Fortschritte der politischen Union zu investieren. Es mag unmöglich sein, eine Union in einen supranationalen Staat zu verwandeln, doch es ist möglich, ihren einheitlichen Charakter zu betonen.

Politik muss vor unabhängigen Behörden zurücktreten

Die Politik wird die wirklich unabhängigen europäischen Behörden akzeptieren und somit einen Schritt zurücktreten müssen. Wir werden ja sehen, was passiert, wenn die Kommission Staatshaushalte untersuchen muss, noch bevor sie in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten besprochen wurden! Und wie Italien die – vorerst noch offene – Perspektive einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung angeht, wie es die nötigen Beziehungen zu Frankreich und Deutschland aufrechterhält. Die erneuerte Achtung der [Konvergenz]kriterien von Maastricht und die Wiederentdeckung der Integration würde eine willkommene Rückkehr auf den seit Generationen erfolgreich zurückgelegten Weg bedeuten. (pl-m)

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