Gefangen in der Lobbyistenfalle

Interessengruppen haben heute in Brüssel mehr Macht als in Washington. Und mangels einer strikten gesetzlichen Regelung ihrer Betätigungen werden sie auch weiterhin ganz nach Gutdünken die europäische Gesetzgebung beeinflussen.

Veröffentlicht am 28 Juni 2010 um 14:09

Daniel Gueguen ist ein Veteran unter den Brüsseler Lobbyisten. Für die Verfechter eines transparenten Systems ist er ein starker Gegner. Doch für diejenigen, die seine Dienste in Anspruch nehmen, ist er einfach ein Profi mit Überzeugungskraft. Gueguen hat sogar eine Art Lobbying-Akademie gegründet: das European Training Institute. Und wie er gerne zugibt, ist Brüssel ein Paradies für die Absolventen seiner Schule, die er lieber als "Personen, die für die Geschäfte der Europäischen Union arbeiten" bezeichnet.

Dieses Paradies hat heute Washington ein- und sogar überholt und ist zur Welthauptstadt des Lobbyismus geworden. Die nur eine Million Einwohner zählende Stadt mit dem Sitz der wichtigsten europäischen Institutionen hat sich im Laufe der letzten 25 Jahre in ein Eldorado für die professionellen Beeinflusser der Eurokraten verwandelt. 1985 arbeiteten hier 654 Lobbyisten, so berichten die Autoren von Bursting the Brussels Bubble [kürzlich veröffentlicht von ALTER-EU, The Alliance for Lobbying Transparency and Ethics Regulation], heute sind es mindestens 15.000. Im Jahr 2009 waren es in Washington rund tausend weniger. Die Designer der europäischen Verordnungen genießen zudem eine weit komfortablere Position als ihre amerikanischen Kollegen: Bestimmungen zur Regelung ihrer Tätigkeit gibt es nämlich nicht.

Nichtssagendes Register der Interessenvertreter

Im Juni 2008 bildete die Europäische Kommission im Rahmen der Europäischen Transparenzinitiative ein Verzeichnis der Interessengruppen. Das einzige Problem dabei ist nur, dass es auf dem Freiwilligkeitsprinzip beruht. Heute sind dort 2.771 Organisationen angemeldet. Das Verzeichnis enthält nur die Basisinformationen und ein Lobbyist ist nicht verpflichtet, anzugeben, welche Richtlinie oder welchen Gesetzesentwurf er beeinflussen will, so William Dinan von der Universität Glasgow. Und das ist noch nicht alles. Laut Paul de Clerk, einem der Autoren von Bursting the Brussels Bubble, reicht es, wenn die Interessenverbände in dem Verzeichnis eine simple Schätzung ihrer monatlichen Lobbying-Ausgaben für einen Kunden angeben. Die Preisspanne reicht dabei von tausend bis... eine Million Euro. Mit derartigen Methoden ist es so gut wie unmöglich, die tatsächlichen Kosten für die Förderung einer bestimmten Verordnung festzulegen.

Die Auswirkungen des Lobbyings in der EU grenzen manchmal an Lächerlichkeit. Es kommt vor, dass europäische Abgeordnete, die nicht die geringste Ahnung von Energiepolitik haben, nach wenigen Beratungsgesprächen Reden schwingen als wären sie Sachverständige großer Energieunternehmen. Um ihren Mangel an Fachleuten wettzumachen, wendet sich die Europäische Kommission regelmäßig an Expertengruppen, welche unabhängige Gutachten liefern sollen. Offiziell arbeiten sie umsonst. Die Autoren von Bursting the Brussels Bubble versichern allerdings, dass sie von den großen Konzernen bezahlt werden.

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Lobbykind REACH - Paradebeispiel aus der Brüsseler Politik

"Untersucht man die Zusammensetzung der Expertengruppen über Finanz- und Bankwesen, dann lassen sich leicht Consultants identifizieren, die zum Beispiel Verbindungen zu Barclays oder Paribas haben", behauptet Paul de Clerk. Er fügt hinzu, eine der eindrucksvollsten Lobbyisten-Aktionen in den letzten Jahren sei die Unterwanderung der Expertengruppe über Biokraftstoffe gewesen. Und das wiederum gar nichts im Vergleich zu dem, was bei den Arbeiten zur REACH-Verordnung (Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien) passierte.

1998 beschloss der Rat der Umweltminister, die Verwendung von ca. 100.000 Chemikalien in der europäischen Chemieindustrie zu regeln. Diese Chemikalien konnten damals ohne jegliche Angaben zu den Auswirkungen ihrer Anwendung hergestellt, importiert oder verkauft werden. Die staatlichen Institutionen mussten die potentielle Schädlichkeit der verschiedenen chemischer Wirkstoffe überprüfen und sie eventuell verbieten.

Der Gegner hieß Bayer, BASF & Co.

2001 schlug die Europäische Kommission vor, die Chemieindustrie zu kontrollieren. Hersteller und Importeure mussten nun Informationen über die Eigenschaften der verwendeten Substanzen angeben und die gefährlichen Chemikalien durch weniger schädliche Entsprechungen ersetzen. Dies war auch der Beginn des europäischen Lobbyings in seiner heutigen Form.

Die Lobbyisten versuchten, alle davon zu überzeugen, dass die Vorschläge der Kommission die Chemieindustrie in Europa zugrunde richten und somit zu einer unvermeidlichen Erhöhung der Arbeitslosigkeit führen würden. Die Hauptstreiter im Kampf gegen das Projekt der Kommission waren die Firmen Bayer und BASF. 2003 trug der deutsche Verband der chemischen Industrie zur Finanzierung politischer Parteien bei. Die CDU-CSU strich insgesamt 150.000 Euro, die FDP 50.000 und die SPD 40.000 Euro ein.

Nur ein Skandal kann zu einer Reglementierung führen

Diese Lobbying-Aktion wirkte sich folgendermaßen aus: Dem durchgebrachten Gesetz gemäß muss die chemische Industrie über alle Chemikalien, die in einer Menge von über einer Tonne pro Jahr gehandelt werden, grundlegende Auskunft erteilen. Doch statt der ursprünglich geplanten 100.000 betreffen die Vorschriften der REACH-Verordnung letztendlich nur 30.000 Chemikalien.

Fachleuten zufolge gehört der Lobbyismus heute endgültig zur Brüsseler Landschaft. Die Lobbys werden weiter ungeniert vorgehen, bis ein europäisches Gesetzgebungsverfahren ihre deutlich das Gesetz behindernden Machenschaften zutage bringt. Nur falls sie in einen großen Skandal verwickelt wären, könnte dies zur Reglementierung der Tätigkeit jener führen, welche "für die Geschäfte der Europäischen Union arbeiten". (pl-m)

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