Interview Migration und Asyl
Agnieszka Holland in Brüssel im Februar 2024. | Foto: ©GpA Agnieszka Holland GpA

Agnieszka Holland: Die Aufnahme von Migrierenden in Europa, „Dilemma zwischen Bequemlichkeit und Werten“

Anlässlich des Starts ihres neuesten Films „Green Border“ trafen wir uns mit der Filmregisseurin Agnieszka Holland. Der jüngste Regimewechsel in Polen brachte zwar eine Welle der Hoffnung über das Land, aber Holland gesteht trotzdem ihre Besorgnis über die Zunahme rechtsextremer Diskurse und die „Vernichtung“ von Migranten, die sich ihrer Meinung nach am Horizont abzeichnet.

Veröffentlicht am 27 Februar 2024 um 13:57
Agnieszka Holland GpA Agnieszka Holland in Brüssel im Februar 2024. | Foto: ©GpA

Die polnische Filmregisseurin Agnieszka Holland ist produktiv: In ihrer über fünfzigjährigen Karriere hat sie zahlreiche kritische Erfolge erzielt, darunter ihre Filme „Hitlerjunge Salomon“ (1990) und „In Darkness“ (2011). Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet.

Ihr letzter Film, „Green Border“ (Filmstart in Polen im Jahr 2023) wurde von der extremen Rechten Polens wegen seiner Darstellung der Behandlung von Migrierenden an der polnisch-belarusischen Grenze kritisiert. „Green Border“ erhielt bei den Filmfestspielen von Venedig 2023 den Spezialpreis der Jury. Wir trafen Holland bei der Premiere in Brüssel.

Voxeurop: Warum haben Sie diesen Film gemacht?

Agnieszka Holland: Ich verfolge die Situation der Migration seit 2015 genau und habe die verwirrende und feige, inkonsequente Reaktion Europas beobachtet. Aber als ich unmittelbar damit konfrontiert wurde, fühlte ich mich verpflichtet, das Wort zu ergreifen, vor allem, weil ich einen Großteil meiner Arbeit dem Erzählen von Geschichten im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewidmet habe.

Ihr Film war sehr umstritten, Sie haben Drohungen erhalten und wurden angegriffen ... Wie geht es Ihnen heute, wie fühlen Sie sich?

Es geht mir besser, weil die ultrakonservative nationalistische Regierung, die mich angegriffen hat, die Wahlen verloren hat. Natürlich hat sich das Land nicht komplett verändert – sie haben die Gesetze und Institutionen mit ihren eigenen verfassungswidrigen Gesetzen untergraben und es ist jetzt in vielen Bereichen sehr schwierig, aus der vorherigen Situation herauszukommen. Vor allem, da der Präsident des Landes immer noch aus dieser konservativen Partei [der rechtsextremen Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS] stammt. Er kann den Versuch, die Gesetze zu ändern, nicht ertragen. [Der demokratische Kampf] ist gewonnen, aber es ist nicht leicht, das in die Realität umzusetzen. Die Atmosphäre hat sich verändert, aber 30-35 % der Bevölkerung unterstützen immer noch diesen autoritären Populismus, der auch über die Anziehungskraft des Nationalismus und oft auch des Rassismus verfügt. Aber die Menschen, die sich den Film angesehen haben, reagierten mit vielen Emotionen und zahlreichen ehrlichen und wichtigen Fragen. Und das war es, was wir vor allem wecken wollten, dieses Bewusstsein, dass wir einer Situation ins Auge sehen müssen, die nicht nur in Polen, sondern in ganz Europa vorherrscht.

Agnieszka Holland à Bruxelles en février 2024. | Photo: ©GpA
Agnieszka Holland in Brüssel im Februar 2024. | Foto: ©GpA

Auf jeden Fall hatten wir einen großen Erfolg beim Publikum, und ich denke, indem wir diese Fragen stellten, indem wir auch die Menschen zeigten, die von der Propaganda als pädophile, zoophile Terroristen und Waffen von Lukaschenko dargestellt wurden, ist es uns gelungen, die Debatte zu eröffnen und auch eine Art kollektiver Empathie zu wecken.

Apropos Regimewechsel: Es stimmt, dass die Migrationspolitik im Polen von Recht und Gerechtigkeit (PiS, ultrakonservativ) besonders gewalttätig war. Sind Sie jetzt optimistischer?

Im Moment sehen wir keine großen Veränderungen. Immerhin wurden einige ranghohe Verantwortliche des Grenzschutzes entlassen, die die Gesichter dieser Gewalt waren. Die Politik ändert sich jedoch nicht, jedenfalls nicht viel. Man macht Druck, man diskutiert, man hört, dass die „Pushbacks“ [Zurückschieben] notwendig sind, aber dass man sie auf humane Weise durchführen wird, was ein Oxymoron ist. Aber zumindest lügen sie nicht, sie erzählen keine schrecklichen Dinge, sie benutzen keine Nazi- und rassistische Sprache und man kann mit ihnen diskutieren – und wir werden weiter Druck machen. Die öffentliche Meinung ist sensibler als noch vor ein paar Monaten.


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Ist Gewalt nicht auch für die Entmenschlichung der Geflüchteten notwendig, eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich die Ordnungskräfte so verhalten können, wie sie es tun?

Ja. Zunächst einmal, wissen Sie, bin ich auch sensibel für das Thema der Situation von Migrierenden an unseren Grenzen, weil ich diesen Prozess kenne, der von mehreren Ländern eingeleitet wurde. Zuerst ist es die Selektion, man entscheidet, wer das Recht hat zu leben, mit Würde behandelt zu werden. Danach werden diese Menschen entmenschlicht. Die polnische Staatspropaganda war völlig schamlos, der Innenminister hielt diese – zumindest in Polen – berühmte Pressekonferenz, in der er sagte, dass [die Migrierenden] nicht wirklich Menschen seien, dass sie in erster Linie Lukaschenkos Waffen seien, Terroristen, Vergewaltiger, Pädophile und Zoophile. Es ging wirklich darum, Angst zu machen und die Migrierenden auch ihrer Stimmen, ihrer individuellen Schicksale zu berauben, sie als eine gefährliche und widerliche Masse darzustellen. Nach diesen Zurückweisungen, nach diesen Push-Backs, nach der Gewalt ist das letzte Stadium die Vernichtung – das ist es, was mir Angst macht. Denn ich höre die Worte einiger rechter Politiker*innen, die offen über den Einsatz von Waffen gegen Geflüchtete sprechen, sowohl in Europa – in Italien zum Beispiel, oder in den Niederlanden – als auch in Texas.

Was sollten wir also auf politischer Ebene tun?

Vor allem sollte man sich der Situation stellen, analysieren, diskutieren, nach den Gründen suchen und versuchen, das Bewusstsein der Menschen zu verändern – nicht indem man ihnen Angst macht, sondern indem man ihnen positive Bilder der Realität zeigt. Denn immerhin braucht dieses Europa, das schrumpft, das ein Kontinent ist, der demografisch gesehen im Verschwinden begriffen ist, das altert, neue Bürger. Aber ich denke, es ist wirklich das Dilemma zwischen Bequemlichkeit und Werten.

Aber einige europäische Bürger*innen, zumindest diejenigen, die für die Argumente der extremen Rechten empfänglich sind, ohne unbedingt Neofaschist*innen oder Neonazis zu sein, haben echte Angst vor dem, was die Geflüchteten bringen könnten.

Ja, natürlich. Deshalb sage ich, dass das Dilemma zwischen Komfort und Werten liegt. Weil man in diesen europäischen Ländern sehr privilegiert ist, und in solchen Momenten teilt man den Komfort. Wir machen Fortschritte, aber es gibt einen „Backlash“ [einen „Rückprall“]. Das bedeutet, dass es immer eine Verteidigung derjenigen gibt, die das Monopol auf das Recht haben. Und so ähnlich ist es auch mit der Migration. Auf jeden Fall sollte man es vermeiden, die Sprache der Rechtsextremen und der Faschos auf der anderen Seite zu akzeptieren. Ich weigere mich, über Migrierende anders zu sprechen als als menschliche Wesen, die ihr Leben, ihre Entscheidungen, ihre Bedürfnisse haben – die gleichen, grundlegenden – und es ist unsere Verantwortung, zu teilen.

Green Border ist ein sehr harter, sehr gewalttätiger Film, der, wie Sie sagen, ziemlich pessimistisch im Hinblick darauf ist, was Europa heute ist. Aber was ist Europa für Sie? Ist es für Sie immer noch ein schönes Projekt, das es zu verteidigen gilt?

Eindeutig. Es ist ein sehr schönes Projekt, eines der schönsten Projekte der Menschheit, denke ich. Es scheitern zu lassen, wäre eine schreckliche Verschwendung. Das werden wir mit vielen Menschenleben bezahlen, nicht nur mit den Leben der Migrierenden, der Menschen aus anderen Ländern, sondern auch mit den Leben unserer weißen Bürger*innen. Ich bin ziemlich pessimistisch, weil ich glaube, dass es immer viel einfacher ist, das Böse zu kultivieren, als das Gute. Hier ist die Verantwortung der Behörden oder der politischen oder religiösen Autoritäten enorm, die Menschen sind verloren in dieser so komplizierten Welt voller unterschiedlicher Herausforderungen und Themen. Die Moderne ist extrem komplex und es gibt so viele Gefahren, dass die Menschen sich darin verlieren. Sie wollen jemandem folgen, der ihnen sagt: „Wir haben ganz einfache Antworten auf eure komplexen Fragen, wir wissen, was zu tun ist“. Und diese Populisten gewinnen, weil sie genau diese Antwort geben. Aber die Realität ändert sich nicht, auch wenn man sie anders benennt, sie ist immer noch da.

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