Demonstranten auf Kairos Tahrir-Platz, 1. Februar 2011

Hände weg von Ägypten!

Die Ereignisse in Ägypten sind für jeden Verfechter der Bürgerrechte berauschend, gibt Simon Jenkins, Kolumnist des Guardian, zu. Doch angesichts seiner Geschichte blutiger und unnützer Interventionen weltweit, sollte sich der Westen gut überlegen, ob er sich beim Streben der muslimischen Staaten nach Selbstbestimmung wirklich einmischen will.

Veröffentlicht am 2 Februar 2011 um 17:03
Demonstranten auf Kairos Tahrir-Platz, 1. Februar 2011

Wir sind Heuchler. Wir feuern die mutigen Tunesier und Ägypter an, während sie die revolutionäre Macht auf der Straße durchdrücken. Hände weg, rufen wir. Sie sollen es auf ihre eigene Art machen. Es hat lange gedauert, aber das Volk soll die Anerkennung erhalten und sich daran stärken.

Den Irakern oder den Afghanen ließen wir eine solche Freiheit allerdings nicht. Wir gingen davon aus, es sei an uns, ihnen zu diktieren, wie sie regiert werden sollen. Wir lasteten ihren Anführern Verbrechen an und beschlossen, sie alle zu bestrafen, wobei Tausende ums Leben kamen. Wir erklärten eine „Freiheitsagenda“ und bombardierten sie alle kurz und klein.

Muslimischen Extremismus: pathologischer, alles verzehrenden, kostspieligen Terror

Der Ägypter Husni Mubarak ist ein anderer Saddam Hussein, ein weltlicher Diktator, der ein muslimisches Land mit einem eisernen Zepter und einer Kleptokratie von Kumpanen regiert. Es wird uns erklärt, es habe gute strategische Gründe gegeben, ihn zu unterstützen – genau wie es gute Gründe gab, die Baathisten, Assad in Syrien und sogar Saddam zu unterstützen. Aus ähnlicher Motivation stand man auch hinter der Ben-Ali-Dynastie in Tunesien und hinter „Großbritanniens gutem Freund“, dem unsäglichen Oberst Gaddafi in Libyen. Sie alle boten angeblich ein Bollwerk gegen den muslimischen Extremismus, dieses vorgebliche Ungeheuer, das Amerikanern und Briten einen pathologischen, alles verzehrenden und kostspieligen Terror einflößen sollte. Heute trifft das anscheinend auf Ägypten nicht mehr zu.

In Wirklichkeit gibt es gar keine ethische Außenpolitik. Es gibt das Philosophische, die Ethik, und das Pragmatische, die Außenpolitik. Und die Kunst der Diplomatie besteht darin, zwischen ihnen zu navigieren. Dem von Blair und Bush geführten „Kreuzzug für die Demokratie“ misslang das allerdings. Er war vom Allergefährlichsten in der Politik motiviert, nämlich von religiösem Eifer.

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Revolutionen sind das politische Pendant zu Hochwasser

Für jeden Verfechter der Bürgerrechte ist das, was da in Ägypten passiert, einfach berauschend. Genau wie die Rosenrevolution in Georgien, die Orangefarbene Revolution in der Ukraine, die Safranrevolution in Burma, die Grüne Revolution im Iran und die Jasminrevolution in Tunesien. In jedem dieser Fälle brach beim Volk die instinktive Opposition zur Diktatur heraus. Über die Grenzen der Ausdauer getrieben, nahm es die letzte Möglichkeit wahr, welche autonomen Individuen gegeben ist, und zog die Straßen hinunter. Das Resultat hing jeweils von der Sicherheit und dem Selbstvertrauen des Regimes und seiner Kommandogewalt über die Armee ab.

Es hing nur selten von der Billigung oder Unterstützung durch Außenstehende ab. Im Gegenteil, die effektivste Waffe gegen einen Aufstand in Zeiten der nationalen Krise ist es, ihn als Werkzeug ausländischer Interessen zu bezeichnen. Das war sicherlich im Iran der Fall. Für westliche Augen ist das Beobachten von Revolutionen eine Wiederholung unserer eigenen demokratischen Ursprünge. Sie erinnern uns, manchmal etwas selbstgefällig, daran, dass ein Großteil der Welt den Weg zu freien Wahlen, Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit noch nicht gefunden hat. Doch sie sind auch das politische Pendant zu Erdbeben oder Hochwasser.

Sicher brauchen diese Leute unseren Rat, unsere Hilfe und wenigstens unsere ständigen Kommentare. Das Bedürfnis, sich einzumischen, wird unwiderstehlich. Großbritannien, das sich im Umgang mit Ägypten in der Vergangenheit als ungeeignet erwiesen hat, gab am Wochenende seine Wenigkeit dazu. Das Außenministerium erklärte: „Wir wollen nicht, dass Ägypten in die Hände von Extremisten fällt... Wir wollen einen geordneten Übergang zu freien, fairen Wahlen und eine größere Freiheit und Demokratie in Ägypten.“ Wen kümmert es, was Großbritannien in Ägypten „will“? Großbritannien ist nicht mehr für Ägypten zuständig, wenn es das überhaupt jemals war.

Wir sollten sie in Ruhe lassen

Ein Eingreifen wäre allerdings Wahnsinn. Hätte der Westen im Irak und in Afghanistan nicht eingegriffen, dann hätte das irakische Volk bestimmt inzwischen einen Weg gefunden, Saddam loszuwerden. Die Bevölkerung, oder die Armee, hätte das getan, was die Tunesier und die Ägypter tun, und es hätte sehr viel weniger Leben, Umbrüche und Chaos gekostet. Und was die Taliban betrifft, so wären sie als Vasallen von Islamabad Pakistan gefügig gewesen. Die Afghanen wären eine Bedrohung für sich selbst und sonst niemanden.

Die Kriege, die die Geschichte einmal als „Kriege des 11. Septembers“ bezeichnen wird, werden unermesslich mehr Menschen getötet haben als der 11. September selbst. Sie werden die westlichen Steuerzahler Milliarden gekostet haben, mit denen man dazu hätte beitragen können, Krankheit und Hunger auf der Welt zu lindern. Die amerikanische und die britische Regierung haben – aus Gründen, die mit einer Art Großmachtparanoia zu tun haben – die Bedrohung durch die muslimische Welt grotesk übertrieben. Sie haben in weiter Ferne mit einer Kampagne der Intervention, des Regimewechsels und der Staatsbildung begonnen. Die Kampagne war unangebracht und kontraproduktiv, und sie verstieß auch gegen die Charta der Vereinten Nationen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Ägypten, Tunesien, Iran und Pakistan sind muslimische Staaten, die mit den Qualen der Selbstbestimmung ringen. Der einzige Beitrag des Westens bestand darin, zwei ihrer Nachbarn, Irak und Afghanistan, in ein Blutbad aus Unsicherheit und Chaos zu stürzen. Das ist nicht unser Kontinent, das sind nicht unsere Länder und all das geht uns nichts an. Wir sollten sie in Ruhe lassen.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

Mittelmeerunion

Ägypten macht Sarkozys Spielzeug kaputt

Die Ägyptenkrise könnte sehr wohl die Endstation für die Mittelmeerunion sein, schreibt La Stampa: Nach dem Rücktritt des Generalsekretärs Ahmad Khalef Masadeh, unter dem Vorwand mangelnder Finanzierung, ließen die „politischen Erschütterungen in Tunesien, Albanien und Ägypten das Bild noch verschwommener werden und brachten Brüssel in die Bredouille. Und dies nicht nur, weil Mubarak heute noch Co-Präsident der Mittelmeerunion ist“. Die Frage muss bei der nächsten Sitzung des Unionsrates behandelt werden und könnte zur neuen heißen Kartoffel werden. Die Union „sollte das Mare Nostrum vereinigen, eine Brücke schlagen zwischen Ländern, deren Vergangenheit ein paar Fetzen gemeinsam hat und die lernen müssen, in Zukunft miteinander zu leben, mit 43 Mitgliedern, den EU-Staaten und dazu den Balkanländern und den Ländern in Nordafrika“.

Doch sie scheiterte, denn außer Paris glaubte niemand so richtig daran, erklärte der Stampa eine diplomatische Quelle: „Die Deutschen zogen nicht so mit, denn sie befürchteten eine Ablenkung der EU vom Osten. Doch sie haben Sarkozy sein Spielzeug gelassen. Als der französische EU-Vorsitz vorbei war, gaben sie es auf“. Nach Angaben des italienischen Außenministers Franco Frattini steht die Mittelmeerunion still und im Moment sollte man sich lieber auf das „5+5“ beschränken (Tunesien, Algerien, Marokko, Libyen, Mauretanien, Portugal, Spanien, Frankreich, Italien und Malta), dessen Vorsitz derzeit von Rom geführt wird und das auf Griechenland und Ägypten erweitert werden könnte.

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