Nachrichten Eine Stimme zu Europa

Ich habe einen Traum

Lasst uns die festgefahrene Situation zwischen den blutleeren Liberalen und den leidenschaftlichen Extremisten aufbrechen, um Europa weiterzubringen, so argumentiert der slowenische Philosoph Slavoj Žižek.

Veröffentlicht am 4 Februar 2011 um 12:54

Als Slowenien vor zehn Jahren kurz davor stand, der Europäischen Union beizutreten, paraphrasierte einer unserer Euroskeptiker voller Sarkasmus einen Witz der Marx Brothers über die Probleme mit Rechtsanwälten: Haben wir Slowenen Ärger? Treten wir doch der EU bei! Dann haben wir zwar noch mehr Ärger, aber auch die EU, die sich darum kümmert. Genau so sehen viele Slowenen die EU heute: Sie bringt zwar eine gewisse Unterstützung, doch sie bringt auch neue Probleme (Vorschriften und Bußgelder, finanzielle Beiträge zur Rettung Griechenlands usw.). Ist es die EU also wert, dass man sie verteidigt? Die echte Frage lautet natürlich: Welche EU?

Vor gut hundert Jahren machte Gilbert Keith Chesterton auf den blinden Fleck jedweder Religionskritik aufmerksam: „Menschen, die im Namen der Freiheit und der Menschlichkeit gegen die Kirche kämpfen, vertreiben Freiheit und Menschlichkeit, wenn sie ausschließlich gegen die Kirche kämpfen. Säkularisten bringen nicht die Idee vom Göttlichen zum Verschwinden, sondern zerstören vielmehr das Säkulare, falls Ihnen das ein Trost sein kann.“ Dasselbe gilt für die Anwälte des Religiösen selbst. Wie viele fanatische Verfechter der Religion begannen mit Attacken gegen die säkulare Kultur und gaben letztendlich jegliche bedeutungsvolle religiöse Erfahrung auf?

Ähnlich sind viele liberale Kämpfer so sehr darauf erpicht, den antidemokratischen Fundamentalismus zu bekämpfen, dass sie letztendlich Freiheit und Demokratie selbst fortschleudern. Die „Terroristen“ sind zwar bereit, diese Welt aus Liebe zu einer anderen Welt zu zerstören, doch unsere Kämpfer gegen den Terror sind bereit, ihre eigene demokratische Welt aus Hass gegen den muslimischen Anderen zu zerstören. Manche von ihnen lieben die Menschenwürde so sehr, dass sie sogar bereit sind, die Folter – die ultimative Erniedrigung der Menschenwürde – zu legalisieren, um sie zu verteidigen.

In ihrem Eifer, das christliche Europa zu wahren, begraben die neuen Eiferer sein Erbe

Und gilt nicht auch dasselbe für den neuesten Aufstieg der Verteidiger Europas gegen die Bedrohung durch die Immigranten? In ihrem Eifer, das jüdisch-christliche Erbe zu schützen, sind die neuen Eiferer bereit, den wahren Kern des christlichen Erbes zu begraben: nämlich, dass jeder Einzelne einen direkten Zugang zur Universalität des Heiligen Geistes hat (oder heute eben der Menschenrechte und Freiheiten); dass ich selbst an dieser universalen Dimension direkt teilnehmen kann, unabhängig von meiner Stellung innerhalb der globalen Sozialordnung.

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Die „schockierenden“ Worte Christi bei Lukas weisen uns den Weg einer Universalität, die jegliche soziale Hierarchie ignoriert: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein." (14,26)

Familienbeziehungen stehen hier für jegliche besondere ethnische oder hierarchische soziale Bindung, die unseren Platz in der globalen Ordnung der Dinge definiert. Der „Hass“, der da von Christus angeordnet wird, ist demnach nicht das Gegenteil christlicher Liebe, sondern ihre direkte Bezeugung: Die Liebe selbst ordnet uns an, uns von der organischen Gemeinschaft, in die wir hineingeboren wurden, „loszulösen“, oder, wie der Heilige Paulus es ausdrückte: Für einen Christen gibt es weder Mann noch Frau, weder Jude noch Grieche. Kein Wunder, dass diejenigen, die sich gänzlich mit einer bestimmten Lebensweise identifizierten, die Erscheinung Christi als lächerlich oder traumatisch wahrnahmen.

Doch die Sackgasse, in der Europa steckt, geht noch viel weiter. Das echte Problem liegt darin, dass die Kritiker der Anti-Immigrations-Bewegung den kostbaren Kern des europäischen Erbes verteidigen sollten, doch statt dessen dazu tendieren, sich auf das endlose Ritual zu beschränken, in dem sie Europas eigene Sünden beichten, demütig die Einschränkungen des europäischen Erbes akzeptieren und den Reichtum anderer Kulturen zelebrieren.

„Die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten von der Leidenschaft erfüllt.“

Die berühmten Zeilen aus dem Gedicht „Das Zweite Kommen“ von William Butler Yeats beschreiben perfekt unser heutiges Dilemma: „Die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt.“ Dies ist eine ausgezeichnete Beschreibung der aktuellen Spaltung zwischen den blutleeren Liberalen und den leidenschaftlichen Fundamentalisten, ob es sich dabei nun um Muslime handelt oder um unsere eigenen, die Christen. „Die Besten“ sind nicht länger dazu fähig, sich voll und ganz zu engagieren, während sich „die Ärgsten“ auf einen rassistischen, religiösen oder sexistischen Fanatismus einlassen. Wie können wir aus dieser festgefahrenen Situation ausbrechen?

Eine kürzlich in Deutschland abgelaufene Debatte kann uns vielleicht den Weg weisen. Im vergangenen Oktober erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Rede vor ihrer konservativen christlich-demokratischen Union, der Ansatz des Multikulti, des Nebeneinander-Herlebens und Sich-übereinander-Freuens sei gescheitert. „Absolut gescheitert.“ Damit ging sie auf die ein paar Jahre zurückliegende Diskussion über Leitkultur ein, als die Konservativen darauf bestanden, jeder Staat beruhe auf einem vorherrschenden Kulturraum, den die Mitglieder anderer, im selben Raum lebender Kulturen respektieren sollten.

Derartigen Erklärungen zufolge sollten wir, anstatt das neu aufkommende rassistische Europa zu beklagen, Selbstkritik beweisen und uns fragen, in welchem Ausmaß unsere eigene abstrakte Multikulturalität zu diesem traurigen Stand der Dinge beigetragen hat. Wenn nicht alle Seiten in gleicher Weise zuvorkommend sind, dann wird Multikulturalität zu einer durch Gesetze regulierten gegenseitigen Unkenntnis oder zu Hass. Der Konflikt über Multikulturalität ist bereits ein Konflikt über Leitkultur: Er ist kein Konflikt zwischen Kulturen, sondern zwischen verschiedenen Vorstellungen davon, wie verschiedene Kulturen nebeneinander bestehen können und sollen, sowie von den Regeln und Bräuchen, die diese Kulturen teilen müssen, wenn sie nebeneinander bestehen sollen.

Nie tolerant genug? Zu tolerant?

Man sollte somit vermeiden, sich in dem liberalen Spiel des „Wie viel Toleranz können wir uns leisten?“ zu verfangen: Sollen wir es tolerieren, wenn sie ihre Kinder davon abhalten, die staatlichen Schulen zu besuchen? Wenn sie ihre Frauen dazu zwingen, sich auf eine bestimmte Art zu kleiden? Wenn sie Ehen arrangieren oder Homosexuelle brutalisieren? Auf dieser Ebene sind wir natürlich nie tolerant genug, oder wir sind jetzt schon zu tolerant und vernachlässigen die Rechte der Frauen, der Homosexuellen usw.

Der einzige Weg, aus dieser verfahrenen Situation auszubrechen, besteht darin, ein positives, allgemeingültiges Projekt vorzuschlagen, an welchem alle teilnehmen. Kämpfe, bei denen „weder Mann noch Frau, weder Jude noch Grieche“ gilt, gibt es viele, von der Ökologie bis zur Ökonomie.

Vor ein paar Monaten geschah ein kleines Wunder im besetzten Westjordanland: Zu den palästinensischen Frauen, die gegen die Mauer demonstrierten, gesellte sich eine Gruppe lesbischer Jüdinnen aus Israel. Das anfängliche Misstrauen verflog bei der ersten Auseinandersetzung mit den israelischen Soldaten, die die Mauer bewachten, und es kam eine erhabene Solidarität auf, wobei eine traditionell gekleidete Palästinenserin eine jüdische Lesbe mit lila Igelfrisur umarmte – ein lebendiges Symbol für das, was unser Kampf sein sollte.

Also lag der slowenische Euroskeptiker mit seinem Marx-Brothers-Sarkasmus vielleicht daneben. Anstatt mit der Aufwand-Nutzen-Analyse unseres Beitritts zur EU Zeit zu verlieren, sollten wir uns auf das konzentrieren, wofür die EU wirklich steht. Meistens agiert sie als Regulierer der globalen kapitalistischen Entwicklung; manchmal liebäugelt sie mit der konservativen Verteidigung ihrer Tradition. Beide Wege führen zu Vergessenheit, zu Europas Randständigkeit. Der einzige Weg, der aus diesem lähmenden Stillstand hinausführt, ist die Wiederbelebung des europäischen Erbes einer radikalen, universellen Emanzipation. Die Aufgabe besteht darin, die anderen nicht mehr einfach nur zu tolerieren, sondern zu einer positiven emanzipatorischen Leitkultur zu gelangen, die eine authentische Koexistenz tragen kann. Respektiert die anderen nicht nur, sondern leistet einen gemeinsamen Kampf, denn unsere Probleme sind uns heute gemeinsam.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

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