Im Griff der Lobbies

Nach dem jüngsten Korruptionsskandal um EU-Parlamentarier, die als Lobbyisten getarnten Journalisten auf den Leim gegangen waren, ist klar: die Beziehungen zwischen Interessengruppen und EU-Institutionen liegen in einer Grauzone.

Veröffentlicht am 7 April 2011 um 15:06

Wieder hat das europäische Parlament mit mutmaßlichen Korruptionsskandalen oder Interessenkonflikten zu kämpfen. Das Problem des Lobbyismus ist nach dem Rücktritt mehrerer EU-Abgeordneter, die als Lobbyisten getarnten Journalisten auf den Leim gegangen waren, wieder auf dem Tisch. Der Präsident des Europaparlaments Jerzy Buzek hat sich für „Null Toleranz“ gegenüber jeglicher Form von Korruption ausgesprochen. Europäischen Analysten hingegen behaupten, dass das Europaparlament in Wahrheit keine Handhabe dagegen habe – es kann sich darüber empören und eine interne Untersuchung anordnen, aber es hat keinerlei Möglichkeiten, sich der „schwarzen Schafe“ zu entledigen.

Seitdem die britische Zeitung Sunday Times aufdeckte, dass drei Europaabgeordnete sich dazu haben hinreißen lassen, Geld anzunehmen, um einige Änderungsanträge einzureichen, hat die Aufregung über das Thema ständig zugenommen. Ob es sich nun um einen Korruptionsskandal, einen Lobbyskandal oder einen Presseskandal handelt ist dabei nicht so wichtig – die Enthüllungen der Sunday Times diskreditieren das Europaparlament als Gesamtinstitution.

Die Belagerung der EU-Institutionen

Die EU ist in Fragen Lobbyismus ein Sonderfall. Das Gemeinschaftsrecht steht in den allermeisten Fällen über dem nationalen Recht und die Macht konzentriert sich auf eine überschaubare Anzahl an Gebäuden. Die Vertreter der Lobby-Gruppen haben rasch begriffen, dass Brüssel das „Zentrum“ für Lobbyarbeit ist. Dort gibt es Tausende von Lobbyisten, Hunderte PR-Agenturen und Anwaltskanzleien, über ein Dutzend Think Tanks und viele Hundert Unternehmen haben hier „Büros für europäische Beziehungen“ aufgemacht.

Die Mehrheit der Berufslobbyisten in Brüssel vertritt die Interessen großer internationaler Konzerne. Obwohl sie inzwischen auch stark vertreten sind, fallen die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Umweltorganisationen im Vergleich zu den finanziell und organisatorisch bestens ausgestatteten Agenturen der Industrie kaum auf. So unterhält beispielsweise nur der Europäische Verband der Chemieindustrie (CFIC) mehr Lobbyisten als alle Umweltorganisationen zusammen.

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Die europäische Kommission, die das alleinige Initiativrecht für europäische Gesetze besitzt, ist zum Hauptziel der Lobbyisten geworden. Das Interesse für das EU-Parlament hat in letzten Jahren parallel zu dessen Kompetenzzuwachs auch zugenommen.

Das Spinnennetz

Die EU ist stetig gewachsen, und ihre Regelungen gelten für immer technischere Bereiche, wofür man Fachleute braucht. Anstatt diese Expertise selbst zu stellen, hat die Kommission dieses Feld völlig den Lobbyisten überlassen, die zu selbstverständlichen Gesprächspartnern der Entscheidungsträger geworden sind. Diese Praktik geht so weit, dass diese über privilegierte Zugänge zu den EU-Institutionen verfügen, wobei es keinerlei Regeln gibt, die ihre Aktivitäten kontrollieren. Die Tätigkeit der Lobbyisten ist weit davon entfernt, dem öffentlichen Interesse zu dienen und das Gemeinwohl zu unterstützen, sondern sie verfolgen private Interessen und sind darauf ausgerichtet, die Gesetzgebung im Sinne der Großkonzerne, von denen sie bezahlt werden, zu beeinflussen. Dabei verschleiern diese Interessenverbände der Unternehmen sehr geschickt ihre wahre Motivation. Sie gründen Scheinfirmen, geben vor, für Nichtregierungsorganisationen tätig zu sein, oder finanzieren sogenannte „unabhängige Experten“.

Der Einfluss der Interessenvertreter, die im Hintergrund agieren scheint die EU aber nicht besonders zu stören, denn sie ergreift keine wirksamen Maßnahmen, um die Auswirkungen einzudämmen. Die Stadt Brüssel profitiert von der Industrie der Interessenvertretung und lebt gut von ihren offenen oder versteckten Machtspielen, um die Wünsche der Auftraggeber erfolgreich zu erfüllen. Von morgens bis abends treffen sich Beamte, Diplomaten, Lobbyisten und Journalisten: zum Mittagstisch im Europaviertel, zum Abendessen auf dem Sablon-Platz, sie gehen zu Empfängen, netzwerken am Abend und am Wochenende im selben Club, wo über dasselbe hehre Ziel gesprochen wird – über die Verteidigung Europas!

Ehemalige EU-Kommissare als Söldner der Lobbyisten

Was macht ein EU-Kommissar nach Ablauf seiner Amtszeit? Dies scheint für Brüssel ein unangenehmes Thema zu sein, denn immer mehr ehemalige Kommissare bieten ihre Dienste und ihren Einfluss den internationalen Großkonzernen und Lobbyverbänden, die die Stadt umspannen, feil. So kommt es zu großen oder kleinen Interessenskonflikten, die den europäischen Gesetzgeber korrumpieren. Dabei haben sich alle zufällig oder ganz bewusst Konzernen oder großen Privatinstitutionen angeschlossen, deren Interessen sie während ihrer Amtszeit nicht unterstützt haben.

Ein emblematisches Beispiel dafür ist der deutsche Sozialdemokrat Günther Verheugen, einer der einflussreichsten Kommissare der letzten zehn Jahre. Als Vizepräsident der Europäischen Kommission und Kommissar für Unternehmen und Industrie (2004-2010) wurde Verheugen für seine Unterstützung der Interessen der Großkonzerne zu Lasten sozialer oder ökologischer Aspekte kritisiert. Nur zwei Monate nach Ende seiner Amtszeit gründete er zusammen mit seiner ehemaligen Kabinettsleiterin seine eigene PR-Firma European Experience Company gegründet, eine Beratungsfirma für Lobbying.

Zu den Dienstleistungen seiner Agentur gehört Unterstützung für „Führungskräfte in öffentlichen und privaten Institutionen“ bei deren Lobby-Aktivitäten in der EU. Des Weiteren bietet seine Agentur „Strategieempfehlungen in europapolitischen und anderen politischen Angelegenheiten“. Laut der deutschen Europaabgeordneten Inge Grasle (CDU) „kann jeder, der über das nötige Geld verfügt, sich Verheugens Zugang zu den EU-Institutionen kaufen“.

Die Ethik-Kommission der EU-Kommission hat sich mit dem Fall Verheugen befasst, aber nichts Anstößiges gefunden. Diese Kommission gewährt ehemaligen Kommissaren, die offiziell erst nach einem Jahr das Gewand der Lobbyisten überstreifen dürfen, systematisch Ausnahmeregelungen.

Verhaltenskodex

In einem demokratischen System ist die Interessenvertretung ein rechtmäßiger Bestandteil. Im Zuge der Anstrengungen der EU-Kommission, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen, hat diese ein freiwilliges Lobbyisten-Verzeichnis geschaffen und einen entsprechenden Verhaltenskodex erarbeitet, um eine höhere Transparenz der Interessenvertretungen, der Lobbyisten und deren Aktivitäten zu gewährleisten. Die NGO Alter-EU, die sich für mehr Transparenz im Lobbying-Bereich einsetzt, hat eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass 60 Prozent der Interessenvertretungen sich nicht in dieses Register eintragen, und fordert die Abgeordneten dazu auf, ihre Treffen mit Lobbyisten einzustellen. Dieselbe Organisation hat auch eine „schwarze Liste“ der Lobby-Firmen veröffentlicht.

Die meisten Lobbyisten stammen aus Belgien, gefolgt von Deutschland und Frankreich. Von den 13 EU-Kommissaren, die im Februar 2010 aus dem Amt geschieden sind, haben sechs in die Privatwirtschaft gewechselt.

Aus dem Rumänischen von Ramona Binder

Europäisches Parlement

EU-Abgeordnete klammern sich an ihre Sonderrechte

„Die EU-Abgeordneten der PP und der PSOE stimmen gemeinschaftlich ab, um weiter in der ersten Klasse zu reisen“, titelt El Mundo am Tag nach der EU-Parlaments-Abstimmung über die Haushaltanpassung für 2012. „Wie die Mehrheit ihrer Kollegen haben auch sie die Einfrierung der Gehälter oder die Kontrolle der Aufwandsentschädigungen abgelehnt“, betont die Zeitung und berichtet weiter, dass sie für 2012 eine Haushaltserhöhung von 2,3 Prozent entschieden haben. „Die Flugtickets eines spanischen EU-Abgeordneten kosten in der Business-Klasse 1514 Euro; in der Touristen-Klasse 561 Euro“ berichtet El Mundo, für die diese Affäre verständlich macht, warum die „politische Führungsschicht die dritte Sorge“ der Spanier ist (laut der letzten Umfrage des Forschungszentrums CIS). Ein „beschämendes und skandalöses“ Verhalten, urteilt die Tageszeitung. Nachdem die Nachricht auf Twitter veröffentlicht wurde, gaben die Sozialisten bekannt, dass sie ihre Stimmen zurückziehen und sich enthalten würden.

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