"Karlsruhe, Albtraum der europäischen Politiker"

Veröffentlicht am 14 September 2012

Das Bundesverfassungsgericht erklärt den dauerhaften Rettungsschirm ESM verfassungskonform, und Europas Korrespondenten schwanken zwischen Erleichterung und Skepsis. Hospodářské noviny ruft eine „Oligarchie der Schuldenländer“ aus, Le Monde findet, die deutschen Institutionen seien „dem Euro geopfert“ worden.

Die letzte Hürde ist genommen. Deutschland darf den ESM ratifizieren, als letztes der Euroland-Mitglieder, von seinen Partnern einen langen Sommer lang erwartet, und mit Auflagen. Aber das dieswöchige „Ja, aber“ aus Karlsruhe, in der Presse erst zur Schicksalssilbe für den Euro hochstilisiert, verlor, einmal ausgesprochen, in den Kommentarspalten einiges von seiner Magie. Die Irish Times in Dublin titelte zunächst in voller Zufriedenheit: "Ein guter Tag für Europa".

Das positive Urteil des Gerichts, vor allem seine zwei Schlüssel-Auflagen, sind eine wichtige und willkommene Bekräftigung, dass wir demokratische Verantwortlichkeit bis ins Herz der Wirtschaftsunion brauchen. (Irish Times, Dublin, 13. September)

Im immer skeptischeren Euro-Land Slowakei zürnte das Wirtschaftsblatt Hospodářské noviny, dass Schuldenländer jetzt hinderungslos auf Kredit leben könnten, gar dass sie mit Banken und anonymen Investoren eine Oligarchie in Europa durchgesetzt hätten.

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Der Kampf gegen das Stopfen des dauerhaften Rettungsschirms und gegen die Missachtung der Regeln ist vorbei. Die gesunden Länder, die sparen wollen, haben verloren. [...] Die Mitglieder der Euro-Zone haben ihre Entscheidungsfreiheit verloren, ihre Souveränität und einen Großteil ihre Geldes, das der Rettung des 'Systems' geopfert wurde. (Hospodářské noviny, Bratislava, 13. September)

In Spanien, mögliches erstes Empfängerland von Geldern aus dem ESM, fand die Presse Deutschland immer europafreundlicher: "Nach dieser Ohrfeige für die Euro-Skeptiker ist Deutschland Europa verpflichteter als vorher", [wusste etwa El País](http://elpais.com/ elpais/2012/09/12/opinion/1347477975_072033.html). Und La Vanguardia bestätigte:

Die 'Aber' werden kleiner und die 'Ja' größer, wie der Haushaltspolitiker Norbert Barthle es sagte. So gesehen ist es schwierig, die deutsche Kontroverse über die Schuldenkrise wirklich zu verstehen. Deshalb sollten wir die deutschen Auflagen als ein Zeichen dafür sehen, dass die europäische Integration immer noch in den Kinderschuhen steckt, und dass im [deutschen] Fall eine Art Risikoversicherung sicher die angebrachte Lösung ist. ([La Vanguardia, Barcelona, 13. September)](http://www.lavanguardia.com/opinion/editorial/20120913/54350229547/una-alemania- mas-proeuropea.html)

Immerhin habe Karlsruhe ein Licht in der Dunkelheit um Europas Zukunft entzündet, so sah es die italienische Wirtschaftszeitung Il Sole. Ohne Doppelmoral sei das allerdings nicht gegangen.

Niemanden wundert es, dass die Richter in ihrem Urteil die Haftung Deutschlands nach oben begrenzt haben, außer der Bundestag entscheidet kraft seines Haushaltsrechts anders. Das heißt, der Beitrag Deutschlands steht unter der Vormundschaft der deutschen politischen Dynamik. Aber wenn Deutschland im Namen einer nun nicht mehr zu umgehenden Europäisierung der Politik und der Wirtschaft seinen Partnern eine Fiskalunion vorschlägt, d.h. von ihnen verlangt, nicht mehr selbst über die Hebel des Staatshaushalts zu walten, wie können dann die Verfassungsrichter eine völlig gegensätzliche Logik anwenden? Das nennt sich Doppelmoral. Oder blinder Nationalismus. In Wahrheit bleibt Europa trotz des Euro provinziell. ([Il Sole 24 Ore, Mailand, 13. September)](http://www.ilsole24ore.com/art/notizie/2012-09-13/doppio-scudo-leuro-064344.shtml? uuid=Abt3flcG)

Gazeta Wyborcza in Warschau ging noch einen Schritt weiter und deklarierte das Verfassungsgericht sogar zum europäischen Bremsklotz und nach über 60 Jahren Existenz als nicht mehr zeitgemäß.

Karlsruhe muss der Albtraum der europäischen Politiker sein. [...] Was passiert, wenn es einmal Nein zu Europa sagt? Das Bundesverfassungsgericht ist nach EU-Parlament, Kommission und Rat zur vierten wichtigen Behörde des Kontinents geworden. Und es entscheidet über die Zukunft [Europas]. Wenn die Richter die Ratifizierung des Rettungsfonds untersagt hätten, dann stünden der Eurozone – im besten Fall – ernsthaften Turbulenzen bevor. Schon das angsterfüllte Warten auf die Entscheidung des Gerichts hilft Europa nicht weiter. Auch weil sich die deutsche Aufmerksamkeit auf eine kleine Gruppe hartgesottener Euroskeptiker richtet, die seit Jahrzehnten versuchen, die Integration zu sabotieren. Die Deutschen – die doch dank dem umstrittenen vereinten Europa eine wirtschaftliche Supermacht sind – machen [die Richter] zu Berühmtheiten. (Gazeta Wyborcza, Warschau, 13. September)

Dass das Schicksal des Euro diese Woche in den Händen von Richtern und Bankern lag, ist für Le Monde ein starkes Stück und zeigt für das Pariser Blatt ein Paradox im germanischen und lateinischen (sprich: französischen) Geist: In Frankreich, Land des 'Primats der Politik' und der Volkssouveränität, würden heute die Entscheidungen von ebenso unpolitischen wie ungewählten Institutionen wie Verfassungsgericht oder Zentralbank wohlwollend begrüßt; gleichzeitig aber in Deutschland, das seit Kriegsende die richterliche Kontrolle der Politik kultiviert, im selben Maße kritisiert.

Für die Franzosen haben die beiden als undemokratisch verpönten Institutionen eine höchst politische Entscheidung getroffen: um jeden Preis den Euro retten. Damit sind sie zufrieden. Aus dem umgekehrten Grund sind die Deutschen empört: die EZB hat ihre Unabhängigkeit aufgegeben. […] So hat sich statt des scheinbaren dreifachen Vetorechts Deutschlands (Frankfurt, Karlsruhe und Berlin) ein dreifacher Verzicht aufgedrängt. Die ehrwürdigen Institutionen der Bundesrepublik sind auf dem Altar des Euros geopfert worden." (Le Monde, Paris, 13. September)

Gilt unter diesen Umständen also „ESM gut, alles gut?", fragte der Standard aus Wien. "Mitnichten. Der Richterspruch wirkt zwar zunächst wie ein Rettungsring auf hoher See. Doch es ist immer noch unklar, ob Griechenland in der Eurozone gehalten werden kann, ob die Sorgenkinder Spanien und Italien wieder auf die Beine kommen. Und eigentlich ist die Frage, ob die Beteiligung Deutschlands am ESM auch verfassungskonform ist, schon wieder überholt - was einmal mehr das aberwitzige Tempo der Eurokrise zeigt." (Der Standard, Wien, 13. September)

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