Interview JEAN-DOMINIQUE GIULIANI (SCHUMAN STIFTUNG)

„Europa wird demokratisch sein, oder es wird nicht sein“

Anlässlich des 70. Jahrestages der Schuman-Erklärung, dem Gründungsakt der europäischen Einigung, haben wir am 9. Mai den Präsidenten der Schuman-Stiftung zum Stand und zu den Perspektiven dieses Prozesses befragt.

Veröffentlicht am 14 Mai 2020 um 15:02

Vor 70 Jahren verkündete Robert Schuman seine berühmte “Erklärung”, die als Gründungsakt der europäischen Einigung betrachtet wird. Was wurde bis heute erreicht, was nicht? Was bleibt in Bezug auf seine Absichten noch zu tun?

J-D Giuliani: Die seither von den Europäern erzielten Ergebnisse übertreffen die kühnsten Erwartungen der Gründerväter. Es ging um die Wiederherstellung eines dauerhaften Friedens: Niemand kann sich heute vorstellen, dass ein Mitgliedstaat der Union versucht sein könnte, einen Streit mit seinen Nachbarn gewaltsam beizulegen. Es ging darum, ein Europa in Trümmern wiederaufzubauen: Niemand hätte damals geglaubt, dass es hinsichtlich Wohlstand und Prosperität wieder an die Spitze aufsteigen könnte. Es ist daher ein riesiger Erfolg, aber es ist eine Konstruktion, an der ständig gearbeitet werden muss. An der Schwelle zur politischen Union zögern die Mitgliedstaaten, diesen Schritt zu tun und ihn vor allem öffentlich zu beanspruchen. Die Integration wird von der Notwendigkeit vorangetrieben, und nicht durch eine transparente und enthusiastische politische Bewegung.

In der Erklärung heißt es, dass Europa „sich nicht mit einem Schlage herstellen lässt“, sondern „durch konkrete Tatsachen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen“. Diese Solidarität wurde während der Coronavirus-Krise untergraben. Wie kommt Europa da heraus?

Es bestehen durchaus Solidaritäten der Tat, und selbst in der gegenwärtigen Krise ist klar, dass der Dialog zwischen den Mitgliedstaaten unverzichtbar bleibt. Was fehlt, ist eine politische Solidarität zwischen den Mitgliedern der Union, ein von den Völkern getragenes politisches Engagement. Die Zaghaftigkeit der Machthaber und wohl auch die Schwierigkeit, diese Offenheit mit anderen zu teilen, erklären diesen Mangel an Solidarität, der einen echten Rückschritt im Vergleich zu anderen Perioden der europäischen Einigung darstellt.

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Aber der Verweis auf die Schuman-Erklärung – „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“ – drückt auch die Anerkennung aus, dass die europäische Integration nur schrittweise voranschreiten kann, wenn man den Wunsch hat, die nationalen Identitäten zu respektieren.

Angesichts der Coronavirus-Krise und der verzögerten Reaktion der europäischen Institutionen haben sich mehrere Akteure der Zivilgesellschaft gemeldet, um “mehr Europa” und ein Eingreifen der Union im Namen dieser “Solidarität der Tat” zu fordern. Welche Rolle sollte die europäische Zivilgesellschaft in der Zukunft der europäischen Integration spielen, und wird diese Rolle auf institutioneller Ebene anerkannt?

Im Allgemeinen liegen die gemeinsamen Institutionen, mit Ausnahme des Europäischen Parlaments, eher im Zuständigkeitsbereich der Diplomatie als der Politik. Wenn die Kommission und der Rat sich angewöhnten, direkt mit den Bürgern zu sprechen, und sich nicht mit schwer verständlichen und technischen Debatten zwischen Fachleuten im Namen aktueller nationaler Interessen begnügten, dann würden die Bürger und die Zivilgesellschaft den ihnen gebührenden Platz in einer im Entstehen begriffenen europäischen Demokratie einnehmen. Dies ist im Moment nicht der Fall. Und es hat keinen Sinn, «mehr Europa” zu fordern, wenn wir nicht sagen, warum und wie.

Seit mehreren Jahren hören wir, dass sich Europa in einer tiefen Krise befindet, vor allem in Bezug auf die Führung, mit der Folge, dass das Vertrauen der Bürger in die Union in mehreren Ländern abnimmt. Was sind Ihrer Meinung nach die Ursachen und was wären mögliche Lösungen?

Ich habe den Eindruck, dass die Politiker das europäische Aufbauwerk den Diplomaten überlassen haben. Diese können nichts dafür; ohne sie würde es nicht mehr funktionieren! Aber unsere nationalen Politiker waren der Meinung, dass das europäische System so, wie es ist, in Ordnung ist. Und sie haben sich auf die Bequemlichkeit verlassen, welche die Integration bietet. Dies gilt insbesondere für den Euro, der unsere Volkswirtschaften schützt, vielleicht ein bisschen zu sehr! Das ist für mich der Grund für die Abkehr der Bürger in einigen Ländern und für die Desillusionierung der europäischen intellektuellen Eliten — eine echte Desertion.

Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl hat mir einmal gesagt, dass die Einigung Europas nicht von alleine vonstatten geht und dass man jeden Morgen mit dem Vorsatz aufstehen müsse, für ihren Erfolg zu kämpfen. Dieser Kampf muss wieder aufgenommen werden, mit Transparenz vor der öffentlichen Meinung, ohne Geschichten zu erzählen oder leere Versprechungen zu machen. Dies ist der beste Weg, um den Untergangspropheten das Handwerk zu legen, jenen Extremisten, die Niedergang predigen, alles kritisieren und auf der Angst der Bürger surfen. Europa wird demokratisch sein, oder es wird nicht sein. Es wird vielfältig und reich in seiner Vielfalt sein. Es wird weder ein Staat noch ein Imperium sein. Aber es wird seinen Mehrwert unter Beweis stellen müssen, noch für lange Zeit.

Die Schuman-Erklärung wurde zu einer Zeit abgegeben, als die “Gründerväter” am Ende des Zweiten Weltkriegs die Grundlagen für die europäische Integration legten. Sehen Sie Persönlichkeiten, die heute wieder diese Führung verkörpern und die Europäer inspirieren und mobilisieren können?

Die Umstände haben sich zum Glück geändert, und große Persönlichkeiten zeigen sich gewöhnlich unter außergewöhnlichen Umständen. Diejenigen, die wir durchmachen, werden vielleicht mutige Führungspersönlichkeiten hervorbringen, die in der Lage sind, eine Vision ihres Landes und Europas weiterzugeben. Im Moment sehe ich sie nicht, auch wenn ich mit der europäischen Vision von Emmanuel Macron einverstanden bin. Man braucht nicht nur Weitblick, sondern auch großes Geschick und vermutlich auch viel Glück, um eines Tages die Bezeichnung “große Persönlichkeit” zu verdienen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Europäische Union dies wirklich braucht. Männer und Frauen guten Willens würden mehr als ausreichen, um ihr neuen Schwung zu verleihen. Es gibt genug davon. Es liegt an ihnen, mit Entschlossenheit und Mut zu handeln!

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