Schon lange wird befürchtet, dass Wladimir Putin seinen „jüngeren Bruder“ dazu zwingen wird, Truppen in die Ukraine zu schicken. Bisher ist das Gott sei Dank nicht geschehen.
Warum hat der Kreml nicht insistiert? Vielleicht weil damit zu rechnen ist, dass Alexander Lukaschenko nicht über viele gut ausgebildete Truppen verfügt; seine Spezialeinheiten bestehen nur aus einigen tausend Mann, deren Einsatz keinen entscheidenden Unterschied machen würde. Sie an die Front zu schicken, könnte die belarussische „Stabilität“ jedoch durchaus gefährden.
Lukaschenko konnte Moskau wahrscheinlich davon überzeugen, dass sein Land in Zeiten von Sanktionen besser als Lieferant von Waren für militärische und zivile Zwecke geeignet ist. Und als Land, das Truppenmanöver durchführen und so die Ukraine zwingen kann, einen Teil ihrer Streitkräfte abzuziehen.
Man kann durchaus davon ausgehen, dass Putin in privaten Gesprächen mit Lukaschenko erfahren hat, dass die Belarussen nicht bereit sind, gegen die Ukrainer in den Krieg zu ziehen (was die Meinungsumfragen sehr deutlich zeigen). Würden Soldaten tatsächlich in den Kampf geschickt, könnten sie sich ergeben und die Seite wechseln. Und das ganze Land würde in Flammen aufgehen, wenn Konvois mit Leichen eintreffen.
Was auch immer die Wahrheit ist, hat Lukaschenko jetzt einen mächtigen Trumpf in der Hand: Er positioniert sich gegenüber seiner Bevölkerung als weiser Garant für den Frieden. Die staatliche Propaganda hämmert den Belarussen ein, dass sich ihr Land längst im Krieg befinden würde, wenn die „nationalistischen Kämpfer“ von 2020 (gemeint sind die Demonstranten, die damals gegen Lukaschenko protestierten) gewonnen hätten. Das funktioniert, wie unabhängige Meinungsumfragen zeigen, bei einem Teil der Wählerschaft auch sehr gut. Vor allem, weil die meisten Bürger keinen Zugang zu regierungskritischen Medien mehr haben.
Der Ko-Aggressor möchte auf zwei Stühlen gleichzeitig sitzen
Alexander Lukaschenko versucht in diesem Konflikt auf zwei Stühlen gleichzeitig zu sitzen. Einerseits muss er zeigen, dass er weiterhin ein treuer Verbündeter Moskaus ist, um seine Privilegien weiter genießen zu können. Der Krieg hat der belarussischen Wirtschaft die Möglichkeit eröffnet, neue Nischen auf dem russischen Markt, der unter den Sanktionen leidet, zu besetzen. Diese Situation ist jedoch instabil, und die Turbulenzen in der gesamten Region sorgen auch in Minsk für wirtschaftliche Spannungen.
Andererseits will Lukaschenko die Rolle des Friedensengels spielen, um sich, egal wie der Krieg ausgeht, eine weiche Landung zu sichern. Er hat sogar seine eigenen Propagandisten ein wenig zurückgepfiffen, weil sie die Ukraine zu sehr beschimpft haben. Er erinnert seine Untergebenen immer wieder daran, „dass wir früher oder später unsere Beziehungen zu den Ukrainern wiederherstellen müssen“. Er entwirft sogar Pläne für eine Beteiligung am Wiederaufbau des Nachbarlandes nach dem Krieg, was für sarkastische Kommentare in den ukrainischen Medien gesorgt hat.
Doch der Krieg hat die Haltung der Ukrainer nicht nur gegenüber Lukaschenko und seinem Regime verändern, sondern auch gegenüber den Belarussen allgemein.
Das Kastus-Kalinouski-Regiment, das aus belarussischen Freiwilligen besteht, die an der Seite der Ukrainer kämpfen, konnte dem nur bedingt entgegenwirken. Dank der Bemühungen belarussischer Oppositioneller, Freiwilliger, Experten und Medien außerhalb von Belarus, die deutlich machen, dass das Lukaschenko-Regime und das belarussische Volk nicht eins sind, beginnen sich die Beziehungen langsam wieder zu verbessern.
Kiew sieht jedoch weiterhin keine Notwendigkeit, die Zusammenarbeit mit den demokratischen Kräften in Belarus zu erweitern oder ein Treffen zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und der belarussischen Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja zu arrangieren.
Lukaschenko ist alles recht
Lukaschenko scheint derzeit jede Rolle bei den Gesprächen über die Ukraine recht zu sein und will sich eindeutig einen Platz bei eventuellen Friedensgesprächen sichern. Diesen Wunsch hat er in letzter Zeit mehrfach offen geäußert. Dementsprechend ärgerte er sich über den Versuch, „ihn aus der Arena der politischen Akteure zu entfernen“: Seine Gegner hatten beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen ihn erlassen, dem auch stattgegeben wurde.
Die Aussicht, dass der Westen (in erster Linie die USA) sich mit Moskau über die Lage in der Region verständigt und eine Art Jalta-Abkommen schließt, das die Interessen Lukaschenkos ignorieren würde, stresst den belarussischen Machthaber. Denn wer wird sich schon mit einem Vasallenstaat anlegen?
Die demokratischen Kräfte in Belarus hingegen sind davon überzeugt, dass das Schicksal ihres Landes in der Ukraine entscheiden wird. Wenn die Ukraine siegen und Russland ernsthaft geschwächt würde, könnte dies ein neues Kapitel in der Geschichte des Landes öffnen.
Der Sieg von Donald Trump weckte die Befürchtung, dass er Selenskyj zu einem für Kiew ungünstigen Friedensschluss zwingen wird. Lukaschenko ging die Sache von der anderen Seite an: Er begann, den designierten amerikanischen Präsidenten zu umschmeicheln, in der Hoffnung, so mit ihm Deals aushandeln zu können.
Aber für Trump wird die Zukunft von Belarus natürlich nicht im Mittelpunkt stehen. Der Westen neigt insgesamt dazu, Lukaschenko als eine Marionette des Kremls zu betrachten. Warum sollte man eine Marionette an den Tisch für Friedensgespräche setzen? Lukaschenkos Rolle hängt weitgehend davon ab, ob Trump in der Lage ist, ein Abkommen mit dem Kreml zu schließen und wie die Bedingungen dafür aussehen. Die Chancen, dass auch demokratische Vertreter aus Belarus bei den Friedensgesprächen anwesend sein werden, sind nach wie vor gering.
Das Kalinouski-Regiment marschiert in Richtung Minsk - noch ein Wunschtraum
Trotz der Niederschlagung der friedlichen Proteste im Jahr 2020 hoffen viele Lukaschenko-Gegner auf einen bewaffneten Aufstand, der zu einem Regimewechsel führen könnte. Große Hoffnungen werden vor allem auf das Kalinouski-Regiment gesetzt. Es gibt Romantiker, die von einem siegreichen Marsch des Regiments auf Minsk träumen.
Gegenwärtig ist ein solches Szenario jedoch nicht realistisch. Die Hauptsache ist, dass die Ukraine ihre Frontlinie hält. Sollte sie gezwungen sein, einen Waffenstillstand entlang der militärischen Konfrontationslinie zu schließen, ist eine tiefe innenpolitische Krise im Lande wahrscheinlich und Viele würden sich fragen, wofür all das Blut vergossen wurde?
Kiew hat außerdem gerade andere Sorgen, als Belarus von der Diktatur zu befreien. Was das Kalinouski-Regiment betrifft, so handelt es sich um eine militärische Formation, die der Hauptdirektion für Nachrichtendienste des ukrainischen Verteidigungsministeriums unterstellt ist. Es versteht sich also von selbst, dass das Regiment im Interesse der Ukraine eingesetzt und auch in Zukunft eingesetzt werden wird (was jedoch nicht bedeutet, dass der belarussische Patriotismus seiner Soldaten infrage gestellt wird). Im Namen dieser Interessen ist Kiew bestrebt, Lukaschenko nicht zu verärgern und hinter den Kulissen den Kontakt mit ihm zu pflegen.
Bislang ist es nicht gelungen, die demokratischen Kräfte beider Länder zur Entwicklung einer Strategie für die Befreiung von Belarus zu vereinen. Auch die Ernennung des ehemaligen stellvertretenden Kommandeurs des Kalinouski-Regiments Wadim Kabantschuk zum Kabinettsmitglied von Zichanouskaja hat diesbezüglich keine Fortschritte gebracht.
Sollte Lukaschenkos Autorität in eine schwere Krise geraten, könnte ein womöglich blutiger Regimewechsel natürlich eine sehr wichtige, ja entscheidende Rolle spielen. Dafür müssten jedoch eine ganze Reihe von Bedingungen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes erfüllt werden.
Was auch immer geschieht, wird der entscheidende Faktor die mögliche Schwächung Russlands sein. Und diese wiederum hängt weitgehend davon ab, inwieweit der Westen die Ukraine weiter unterstützen wird.
Eine Reihe von Analysten geht davon aus, dass Washington nicht an einer solchen Schwächung, geschweige denn an einem völligen Zusammenbruch Russlands interessiert ist. Unter anderem besteht die Befürchtung, dass Russlands Atomwaffen in die Hände von wer weiß wem fallen könnten. Auch hoffen die USA, dass Moskau im Kampf gegen China eingesetzt werden kann. Trumps Amtsantritt verstärkt jedenfalls die Unsicherheit, denn das Pendel der amerikanischen Politik kann nun in jede Richtung ausschlagen.
Das Diktaturproblem müssen die Belarussen selbst lösen
Was auch immer geschieht, wir müssen der harten Realität ins Auge sehen: Sowohl für Washington als auch für die Europäische Union haben die Souveränität und die Demokratisierung von Belarus keine Priorität, und das ist noch milde ausgedrückt. Sicher, westliche Politiker bringen ihre tiefe Besorgnis zum Ausdruck, aber tatsächlich haben viele von ihnen Belarus gedanklich bereits an das russische Imperium ausgeliefert und sich hinter einem neuen Eisernen Vorhang abgeschottet.
Die Zukunft von Belarus liegt derzeit irgendwo im Nebel des russisch-ukrainischen Krieges. Fest steht nur, dass „kein Retter von oben kommen wird.“ Es mag eines Tages mehr oder weniger günstige äußere Bedingungen für einen demokratischen Wandel geben (und das wird nicht heute oder morgen sein), aber das Problem der Diktatur werden die Belarussen so oder so selbst lösen müssen.
👉 Originalartikel auf Pozirk
Seit den 1980er Jahren und der Finanzialisierung der Wirtschaft haben uns die Akteure der Finanzwirtschaft gelehrt, dass sich hinter jeder Gesetzeslücke eine kurzfristige Gewinnmöglichkeit verbirgt. All das und mehr diskutieren wir mit unseren Investigativ-Journalisten Stefano Valentino und Giorgio Michalopoulos. Sie haben für Voxeurop die dunklen Seiten der grünen Finanzwelt aufgedeckt und wurden für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet.
Veranstaltung ansehen >
Diskutieren Sie mit
Ich werde Mitglied, um Kommentare zu übersetzen und Diskussionsbeiträge zu leisten