Data Gesundheitspolitik in Europa

Mangel an Ärztinnen und Ärzten für Allgemeinmedizin in Belgien: Eine Krise mit Verzögerung

Belgien bleibt von dem Mangel an Ärztinnen und Ärzten für Allgemeinmedizin, der im übrigen Europa herrscht, nicht verschont. Zwar werden bereits Maßnahmen ergriffen, um den Bestand zu erneuern, doch aufgrund der Überalterung der Bevölkerung und dem künftigen Antritt des Ruhestands ist zu befürchten, dass der Mangel in den kommenden Jahren noch ausgeprägter ausfallen wird.

Veröffentlicht am 26 Februar 2025

Ich bin froh, dass ich eine Praxis habe, die gut anläuft. Das freut mich. Aber parallel dazu frage ich mich, wie es in zwei oder drei Jahren sein wird“. Alice (der Vorname wurde geändert) ist eine junge Allgemeinmedizinerin. Auf der Suche nach viel Natur und einer „altmodischeren“ Art, ihren Beruf auszuüben, hat sie sich entschieden, sich in den belgischen Ardennen (Region im Südosten von Belgien) niederzulassen. Da ihr die Region und ihre Bewohner*innen ans Herz gewachsen sind, will sie dort bleiben – ist sich aber weiterhin der schwierigen Situation in der Region bewusst, die als Mangelgebiet gilt. Im Moment versucht Alice, die Aufnahme neuer Patientinnen und Patienten mit einem ausgeglichenen Leben zu vereinbaren, aber sie macht sich trotzdem Sorgen. „An einem bestimmten Punkt müssen wir tatsächlich die Eingangsschleusen schließen und nicht mehr alle Patientinnen und Patienten annehmen, die sich vorstellen.“

Allgemeinmediziner*in in einem Mangelgebiet zu sein, bedeutet zwar, eine lohnende soziale Rolle in manchmal sehr verletzlichen Gemeinschaften einzunehmen und vielfältigere medizinische Handlungen durchzuführen. Aber es bedeutet auch Abgeschiedenheit, schwierige Arbeitszeiten und die Notwendigkeit, sein Leben zu verlagern. Das sind alles Faktoren, die nach Ansicht der Allgemeinmedizinerin junge Bewerbende abschrecken können – und damit letztlich den Mangel an praktizierenden Ärztinnen und Ärzten weiter anheizen.

Elodie Brunel ist Vizepräsidentin der Société Scientifique de Médecine Générale (SSMG). Auch für sie belasten die schwierigen Lebensbedingungen der Allgemeinmediziner*innen deren Bestand. Sie erwähnt auch „die Tatsache, dass die junge Generation von Ärztinnen und Ärzten eine bessere Aufteilung von Privat- und Berufsleben fordert und nicht mehr die Arbeitszeiten der Ärztinnen und Ärzte der vorherigen Generation akzeptieren will“.


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Ein weiteres Problem sind laut Brunel die Quoten für die Identifikationsnummern, die den Angehörigen der Gesundheitsberufe beim Abschluss des Studiums zugeteilt werden (die sog. INAMI-Nummern). Sie sind immer noch ungleich zwischen Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern und Fachärztinnen und Fachärzten zum Vorteil der letzteren verteilt. Brunel räumt jedoch ein, dass Engpasssituationen alle Berufe betreffen, unabhängig von der Spezialisierung.

Ein europäisches Problem

Belgien – insbesondere der mehrheitlich französischsprachige Süden des Landes – bleibt nicht von dem Mangel an Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern verschont, der ganz Europa betrifft. Im Jahr 2023 hat die Kommission für Planung – medizinisches Angebot des Föderalen Öffentlichen Dienstes (FÖD) Volksgesundheit eine Studie veröffentlicht, in der die Entwicklung der Anzahl der Ärztinnen und Ärzte im Land zwischen 2017 und 2021 nachgezeichnet wird. Das Dokument, das aus der Verknüpfung von Daten aus mehreren offiziellen Quellen hervorgegangen ist, ermöglicht eine umfassende Beschreibung der Tätigkeiten der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte. Eine ähnliche Studie existiert für den Zeitraum von 2004 bis 2016.

Im Jahr 2021 gab es in Belgien 12  841 Allgemeinmediziner*innen, die in der Gesundheitsversorgung tätig waren: 1 325 in der Region Brüssel-Hauptstadt, 7 323 in der flämischen Region und 4 157 in der wallonischen Region. 36 gelten als im Ausland wohnend oder haben kein bekanntes Profil. Mit einer Gesamtbevölkerung von 11 521 238 Personen in diesem Jahr liegt Belgien hinsichtlich der Ärztedichte weit über dem europäischen Durchschnitt der Länder, die für diese Erhebung analysiert wurden: 1,1 Ärztinnen bzw. Ärzte pro 1 000 Einwohner*innen im Vergleich zu durchschnittlich 0,75 Allgemeinmedizinerinnen bzw. -medizinern/1 000 Einwohner*innen in den anderen Mitgliedstaaten, wie aus unseren partiellen Zahlen hervorgeht.

Auch wenn die auf nationaler oder Provinzebene (wie in diesem Artikel) berechnete Ärztedichte einen umfassenden Eindruck von der Anzahl der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte vermittelt, bleibt sie ein unvollkommener Indikator. Sie spiegelt nämlich nicht die territoriale Aufteilung und die ungleiche Verteilung der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte über das belgische Staatsgebiet wider. Diese sind in Belgien auf beiden Seiten der Sprachgrenze ein sehr reales Problem. Die Hälfte der Gemeinden in Wallonien gilt heute als vom Ärztemangel betroffen. Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung sind in Europa ein weit verbreitetes Problem.

In ihrem Bericht Health at a Glance: Europe 2024 fasst die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammen: „In vielen Ländern war die Hauptsorge in Bezug auf den Ärztemangel der zunehmende Mangel an Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern, insbesondere in ländlichen und abgelegenen Gebieten, wodurch der Zugang zur primären Gesundheitsversorgung eingeschränkt wird“. Der Bericht erwähnt Litauen, Lettland, Ungarn, die Slowakei, Slowenien und Frankreich als Länder, in denen die Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Gebieten in Bezug auf die Ärztedichte besonders auffällig sind.

Eine Zeitbombe

Der Mangel an praktizierenden Ärztinnen und Ärzten stellt darüber hinaus eine Bedrohung für das belgische Gesundheitssystem dar. Im Jahr 2021 hatten 19,81 % der aktiven Allgemeinmediziner*innen (2545 Personen) das Rentenalter von damals 65 Jahren erreicht oder – teilweise deutlich – überschritten. Was wird geschehen, wenn all diese wichtigen praktizierenden Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf nicht mehr ausüben können? Wird es genügend Nachfolger*innen geben, um die Abgänge zu kompensieren? „Heute schätzt man, dass zwei junge Mediziner*innen nötig sind, um eine(n) zu ersetzen, der/die in den Ruhestand geht“, argumentiert Brunel. Da einige Ärztinnen und Ärzte auch nach Überschreiten des Rentenalters weiter praktizieren, und wenn man bedenkt, dass eine längere Inaktivität auch einen anderen Grund haben kann, ist es schwer zu sagen, wie viele Allgemeinmediziner*innen tatsächlich ihre Tätigkeit aufgeben. Für das Jahr 2021 schätzt der FÖD Volksgesundheit die Zahl der Pensionierungen auf 234, weist aber darauf hin, dass dieser Wert zu hoch eingeschätzt sein könnte.

Belgien ist nicht das einzige europäische Land, das mit einer Überalterung seiner Allgemeinmediziner*innen, Ärztinnen und Ärzte im Allgemeinen konfrontiert ist. Das Problem ist zwar in ganz Europa verbreitet, aber die Situation ist von Land zu Land unterschiedlich. Im Jahr 2022 waren in Italien mehr als ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte (aller Fachrichtungen) über 65 Jahre alt, nach partiellen Daten von Eurostat. Danach folgten Ungarn (22,38 %), Estland (22,29 %), die Tschechische Republik (22,10 %) und Zypern (20,69 %). Insgesamt sind in 12 der 21 untersuchten Länder mehr als 15 % der Ärztinnen und Ärzte über 65 Jahre alt. Umgekehrt ist Malta der Mitgliedstaat mit dem höchsten Anteil an Ärztinnen und Ärzten unter 35 Jahren (1098 praktizierende Ärztinnen und Ärzte, d. h. 46,05 % des Gesamtbestands). Danach folgen Rumänien (34,62 %), die Niederlande (29,65 %), Kroatien (27,37 %) und Litauen (25,73 %).

Anreize statt Zwang

Es werden bereits mehrere Möglichkeiten erforscht, den Mangel an praktizierenden Ärztinnen und Ärzten zu bekämpfen; das Wundermittel hingegen scheint noch lange nicht gefunden zu sein. Finanzielle Unterstützung, Vergünstigungen, Unterstützung von Gruppenpraxen oder Ausbildung von Praxisassistentinnen und -assistenten, die die Allgemeinmediziner*innen entlasten sollen: In Belgien mangelt es nicht an Initiativen, ohne dass es jedoch gelingt, das Problem an der Wurzel zu packen.

Im Jahr 2023 hat die Regierung der Föderation Wallonien-Brüssel die Entscheidung getroffen, die Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium durch ein anderes Auswahlverfahren zu ersetzen, mit dem Ziel, den Mangel an Praktikern im französischsprachigen Teil Belgiens zu bekämpfen. Im selben Jahr wurden 1543 Kandidatinnen und Kandidaten zum Medizinstudium zugelassen, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor, als 869 angehende Ärztinnen und Ärzte die Aufnahmeprüfung bestanden hatten.

Elodie Brunel ist vorsichtig, wenn es darum geht, die reine Zahl der Studierenden zu erhöhen. „Ja, man muss die Zahl der Studierenden erhöhen, aber man muss dies qualitativ tun“, erklärt sie. „Aktuell gibt es Grenzen für das, was an den Universitäten möglich ist“. Denn die Zahl der Studierenden zu erhöhen, setzt voraus, dass qualitativ hochwertiges Lehren und eine entsprechend geplante Infrastruktur gewährleistet werden können.

„Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Zwang nicht funktionieren wird“, meint Brunel. „Wir können die Menschen nicht zwingen, in Gebieten mit einem Mangel an Ärztinnen und Ärzten arbeiten zu gehen“. Eine günstigere Besteuerung in Betracht ziehen, das Betreuungssystem überdenken oder Praktika in Mangelgebieten – für sie kämen auch andere Wege in Betracht. „Man sollte nichts vorschreiben, sondern eher Anreize schaffen.“

„Ich frage mich, ob ich stark genug sein werde, um diesen Lebensrhythmus 40-50 Jahre durchzuhalten, wenn sich die Situation in zehn Jahren nicht zum Besseren wendet und der Mangel sich verschärft“, gesteht Alice aus ihrer Praxis in den Ardennen. Aber die Krise ist bereits da. „Ich habe Kolleginnen und Kollegen [...], die im Alter von 76-77 Jahren immer noch nicht in Rente sind. Das liegt glaube ich teilweise daran, dass sie sich nicht trauen, ihre Patienten loszulassen, weil diese nicht wissen, wo [sie] sich behandeln lassen sollen“. Zehn Jahre erscheinen sehr lang und gleichzeitig sehr kurz.

In Partnerschaft mit dem European Data Journalism Network

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