Einträchtiges estnisches Weihnachtsgebäck. Foto von Nami-nami/Flickr

Mann ist arbeitslos

Hausmann zu sein ist für einen Esten nicht immer lustig. Die Wirtschaftskrise, die vor allem die männlichen Berufe erfasst, hat jedoch auch eine andere Nebenwirkung: Die Rollen innerhalb der Familien werden neu definiert. Und wenn genau das der Zeitpunkt wäre, ein neues Gleichgewicht zu finden?, schlägt die estnische Tageszeitung Eesti Päevaleht vor.

Veröffentlicht am 22 September 2009 um 14:09
Einträchtiges estnisches Weihnachtsgebäck. Foto von Nami-nami/Flickr

In sehr vielen estnischen Familien kann man heutzutage die folgende Szene beobachten: Die Mutter beeilt sich, um zur Arbeit zu kommen und der Vater schleift sich in seinen Hausschuhen bis zum Fernseher, vor dem er versuchen wird, den Tag in Begleitung seiner Kinder und der Großeltern zu verbringen. Um Geld zu sparen hat man die Kinder aus der Tagesstätte und die Großeltern aus dem Altersheim genommen. Wenn man dieses Bild mit einer rosaroten Brille betrachtet, so könnte man den Eindruck bekommen, es handele sich hier um eine idyllische Situation: Mehrere Generationen wohnen erneut vereint unter einem Dach und die Großeltern geben ihren Kindern ihre Weisheiten weiter.

Den Familienvater stellt die Krise vor eine wirkliche Herausforderung, die es ihm erlaubt, mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen und wieder menschlicher zu werden. Die Mutter hingegen, welche die Familie ernährt, ist flügge geworden. Ihre Motivation und die Möglichkeiten, sich ganz ihrer Arbeit zu widmen, sind größer als jemals zuvor.

Doch kann diese Szene auch wahrhaftige Höllenqualen bedeuten: Die Mutter kehrt erschöpft von der Arbeit nach Hause und trifft dort auf einen Ehemann, der sich schon ein paar Flaschen Bier genehmigt hat, um seine Identitätskrise zu lindern. Die euphorischen Kinder wurden einfach vor dem Fernseher sitzen gelassen und haben nun ganz rote Augen, volle Windeln und sterben vor Hunger. Die Alten wiederum, die ihre Medikamente noch nicht genommen haben, sind außergewöhnlich überdreht.

"He-cession" raubt Männern die Arbeit

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Laut der Ende Juli veröffentlichten Zahlen gibt es in Estland 70.244 Arbeitslose, von denen 31.670 Frauen und 38.574 Männer sind. Gegenwärtig beschränkt sich die Arbeitslosigkeit weder auf eine Partei noch auf eine Nationalität. Aber ein männliches Gesicht scheint sie zu haben. Die Wirtschaftrezession hat den Männerberufen im Baugewerbe und in den qualifikationslosen Bereichen einen heftigen Schlag versetzt. Andere Bereiche, wie beispielsweise der Bildungssektor oder das Gesundheitswesen sind verschont geblieben. Genau dort arbeiten vor allem Frauen. Ein vergleichbares Rezessionsmodell hat die USA erreicht. Vladimir Gonzales spricht in einem Artikel auf economywatch.com von der "he-cession" (Er-zession).

Der Rollentausch im Berufsbereich wirkt sich allerdings auch auf die Identität und die Selbstachtung von Frauen und Männern aus. Derjenige zu sein, der das Geld nach Hause bringt, hat auch gleichzeitig immer etwas mit Macht im Alltag zu tun. Der Gewinner, sei es nun Mann oder Frau, wird es sich nicht nehmen lassen, davon zu profitieren. In der familiären Organisation führt das oft zu zahlreichen Spannungen. Die Statistiken zeigen, dass die Gewalt innerhalb der Familien in Estland angestiegen ist. Auch wenn die Gesellschaft im Allgemeinen gut damit klarkommt, dass Frauen ihre Posten verlieren und sich anschließend in ihrer Privatsphäre selbstverwirklichen müssen, indem sie sich der Hausarbeit hingeben, oder sich der Erziehung ihrer Kinder widmen, so tut sich das Umfeld doch schwer damit, wenn es plötzlich akzeptieren muss, dass sich ein Mann ausschließlich zu Hause nützlich macht.

Die Idee vom sanften Mann

Eine neue wirtschaftliche Situation führt immer auch dazu, dass sich neue Denkformen und -weisen herausbilden. Als die Krise zu Beginn der 1990er Jahre Finnland heimsuchte und einem Fünftel seiner Bewohner im arbeitsfähigen Alter die beruflichen Positionen nahm, gaben sich die Unterhaltungsmedien alle Mühe, die Idee vom "sanften Mann" unters Volk zu bringen und beliebt zu machen. Sie versicherten den Menschen, dass die Definition dessen, was wirklich männlich ist, sich gerade im Umbruch befände. Hinter diesem Konzept vom "sanften Mann" versteckte sich weniger eine Veränderung oder Verschiebung der Rollen, als vielmehr eine neue fruchtbare Marketingkategorie für den Markt der Schönheits- und Gesundheitsprodukte. Doch genau das passte zur finnischen Krise. Wie die Faust aufs Auge.

Die Werbung brachte die Männer dazu, sich mehr um sich selbst und um ihr zu Hause zu kümmern und verhinderte so vielleicht zahlreiche Tragödien. Genau zum Zeitpunkt dieser Krise begann man, von der Bedeutung der Rolle des Vaters zu sprechen und das Problem der von Männern verübten Gewalt in der Öffentlichkeit anzusprechen. Zur damaligen Zeit hat man auch in Estland versucht, eine Art neuen männlichen Typus einzuführen. Jedoch hat das nicht wirklich funktioniert, weil der estnische Mann von den Früchten der sich anschließend wieder im Aufschwung befindenden Wirtschaft profitierte. Gegenwärtig müsste die Zeit in Estland aber wieder gekommen sein, um die Väterlichkeit mit neuen Werten zu versehen.

Mit einem Hauch von Humor berichtet Vladimir Gonzales darüber, dass Island im Angesicht des drohenden Bankrottes des ganzen Landes seine Männer entlässt, um einer homosexuellen Frau die Stelle als Regierungschefin anzuvertrauen. Verfrüht sei es, wenn man behaupten würde, dass einzig und allein Frauen dazu imstande seien, die Welt zu retten, welche die Männer in die Katastrophe getrieben haben. Die Weltwirtschaft lasse sich nicht mit unserem Alltag vergleichen, in welchem die Frauen dazu fähig sind, das Haus wieder in Ordnung zu bringen, welches die Männer in einer durchtrunkenen Nacht verwüstet haben. Man müsse die Weltwirtschaft viel mehr mit dem auf eine Party folgenden Morgen vergleichen, an welchem die nun wieder nüchternen Männer ihren Dreck selbst wegmachen.

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