Marinaleda. Der Bürgermeister Juan Manuel Sánchez Gordillo vor einem Graffiti das seine Agrarreform preist.

Marinaleda, die „rote Oase“ fordert die Krise heraus

Der andalusische Ort kennt keine Arbeitslosigkeit und floriert im Schatten seiner landwirtschaftlichen Genossenschaft. Während Spanien mit voller Kraft den Sparkurs steuert, hat sich Bürgermeister Juan Manuel Sánchez Gordillo an die Spitze einer Widerstandsbewegung gestellt.

Veröffentlicht am 29 August 2012 um 15:16
Marinaleda. Der Bürgermeister Juan Manuel Sánchez Gordillo vor einem Graffiti das seine Agrarreform preist.

Juan Manuel Sánchez Gordillo machte in den letzten Tagen Schlagzeilen, nachdem er zusammen mit seinen Kameraden von der andalusischen Arbeitergewerkschaft SAT eine „Zwangsenteignung“ vornahm und Lebensmittel aus mehreren Supermärkten an die sozial Schwächsten austeilen ließ. Kein Wunder, dass dieser Mann als Unikum unter den spanischen Politikern gilt.

Sánchez Gordillo ist langjähriger Leiter der Gewerkschaft der landwirtschaftlichen Arbeiter (SOC), die das Rückgrat der heutigen SAT bildet. Zudem ist er seit 1979 Bürgermeister von Marinaleda [knapp 3000 Einwohner], einem kleinen Ort in der Region Sevilla. Dort hat er mit der Unterstützung und Mitarbeit der Einwohner ein originelles politisches und wirtschaftliches Experiment gestartet, das aus dem Dorf eine Art sozialistische Insel in der andalusischen Landschaft gemacht hat.

„Die Erde gehört denen, die sie bebauen“

Durch die Wirtschaftskrise erhielt Marinaleda die Gelegenheit, zu überprüfen, ob seine Utopie auf 25 Quadratkilometern eine lebensfähige Marktlösung ist. Die Arbeitslosenquote beträgt derzeit 0%. Ein Großteil der Einwohner ist bei der Genossenschaft Humar-Marinaleda angestellt, die nach jahrelangem Kampf von den landwirtschaftlichen Arbeitern selbst gegründet wurde. Lange Zeit hatten die Bauern immer wieder den Grundbesitz des Landwirtschaftsbetriebs Humoso[, der einem Adeligen gehörte,] besetzt und wurden jedes Mal von der Guardia Civil auseinandergetrieben. „Die Erde gehört denen, die sie bebauen“, war ihr Ruf. 1992 wurde ihnen endlich stattgegeben: Heute sind sie die Eigentümer des Betriebs.

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Ihre Produkte sind Saubohnen, Artischocken, Paprikaschoten und extra natives Olivenöl. Die Arbeiter selbst kontrollieren alle Produktionsphasen, der Grund ist Eigentum „der ganzen Gemeinschaft“. Zum Betrieb gehören eine Konservenfabrik, eine Ölmühle, Gewächshäuser, Ausrüstung zur Viehhaltung und ein Laden. Alle Arbeiter erhalten einen Lohn von 47 Euro pro Tag und arbeiten sechs Tage pro Woche, ganz gleich an welchem Arbeitsplatz. Das ergibt 1.128 Euro monatlich für eine 35-Stunden-Woche. [Der spanische Mindestlohn beträgt 641 Euro].

„Weniger arbeiten, damit alle Arbeit haben“

In der Hauptsaison beschäftigt die Genossenschaft rund 400 Personen, andernfalls mindestens 100. Doch keiner hat einen angestammten Arbeitsplatz: Alle wechseln sich ab, damit jeder ein Einkommen hat. „Weniger arbeiten, damit alle Arbeit haben“, so lautet der Grundsatz. Außerdem bebauen manche auch kleine Parzellen, die ihnen allein gehören. Der Rest des wirtschaftlichen Lebens ist aus Geschäften, wesentlichen Dienstleistungen und Sporteinrichtungen zusammengesetzt. Fast alle Dorfbewohner verdienen so viel wie die Arbeiter der Genossenschaft.

In einem Interview mit Publico erklärte Gordillo letzten Monat selbst die Auswirkungen der Krise auf Marinaleda: „Allgemein war die Krise in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelproduktion weniger zu spüren“, betont er. „Leute, die in die Stadt gezogen waren, um im Baugewerbe zu arbeiten, kommen jetzt zurück und suchen Arbeit. Wir müssen also nicht nur die bestehenden Arbeitsplätze aufrechterhalten, sondern neue schaffen. Dabei ist zu bedenken, dass Bio-Anbau mehr Arbeitsplätze schafft als die herkömmliche Landwirtschaft.“

Ein 90 Quadratmeter großes Haus, mit Terrasse und in gutem Zustand, für 15 Euro

Während der letzten Jahrzehnte war Spanien dem „Immobilienboom“ verfallen und die Spekulation hatte den Immobiliensektor ergriffen. Marinaleda hat beschlossen, einen rigorosen Gegenkurs zu halten. Hier kann man ein 90 Quadratmeter großes Haus, mit Terrasse und in gutem Zustand, für 15 Euro monatlich mieten. Die einzige Bedingung: Jeder muss sich am Bau seines Wohnraums beteiligen. Das entspricht der horizontalen Philosophie, die in Marinaleda allem voransteht. Die Grundstücke gingen abwechselnd durch Kauf oder Enteignung an die Gemeinde. Somit stellt sie den Boden und das nötige Baumaterial zur Verfügung. Die Mieter übernehmen den Bau dann selbst, oder bezahlen andere dafür. Zudem beschäftigt die Gemeinde professionelle Maurer, die die Einwohner beraten und die komplizierteren Arbeiten selbst ausführen. Die Mieter wissen auch nicht, welche der Wohnungen ihnen später zugeteilt wird. Das begünstigt die gegenseitige Unterstützung.

„Wenn man an einem Hausbau arbeitet, bekommt man pro Monat 800 Euro “, erklärt Juan José Sancho, ein Einwohner von Marinaleda. „Das Wohngeld kostet die Hälfte dieses Einkommens.“ Der 21-Jährige gehört bereits zur „Aktionsgruppe“ der Gemeinde, die in Versammlungen die laufenden Geschäfte der Gemeinde verwaltet. Seiner Meinung nach wurde diese Maßnahme getroffen, „damit niemand Immobilienspekulation betreiben kann“.

In Marinaleda gibt es keine Polizei und die politischen Beschlüsse werden von einer Versammlung getroffen

Früher konnte ein großer Teil der landwirtschaftlichen Arbeiter kaum lesen. Heute haben sie eine Vorschule, eine Grundschule und eine weiterführende Schule bis zur zehnten Klasse. Die Kantine kostet monatlich nur 15 Euro. Doch Sancho bedauert eines: „Das schulische Versagen ist ein bisschen hoch. Die Leute haben eine Wohnung und eine sichere Arbeit, also sehen viele von ihnen keinen großen Sinn in der Schulbildung. Das ist einer der Punkte, die wir noch verbessern müssen.“

In Marinaleda gibt es keine Polizei und die politischen Beschlüsse werden von einer Versammlung getroffen, an der alle Einwohner teilnehmen können. Die Aktionsgruppe „behandelt all die dringenden Fragen, die täglich aufkommen“, erklärt Sancho. „Die Mitglieder werden nicht gewählt. Es sind Leute, die gemeinsam darüber entscheiden, was zum Gemeinwohl des Dorfs erledigt werden muss.“ Was die Steuern betrifft, so sind sie „sehr niedrig, die niedrigsten in der ganzen Gegend“, wenn man Sancho zuhört. Das Budget wird in der Vollversammlung beschlossen, die auch den verschiedenen Posten zustimmt. Danach geht es auf der Ebene der Dorfviertel weiter, denn jedes Viertel hat seine eigene Einwohnerversammlung. Dort wird dann auch entschieden, wie jeder Euro des von der Gemeinde definierten Postens ausgegeben wird.

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