Opinion Frankreich und Europa

Monsieur Macron und die Euroskeptiker

In einem Land, in dem alle größeren Oppositionsparteien mittlerweile euroskeptische Positionen verteidigen, kann Macron das pro-europäische Lager für sich allein beanspruchen. Doch für Europa verheißt dies nichts Gutes, schreibt François Hublet, Chefredakteur der Cahiers électoraux de l'Union européenne.

Veröffentlicht am 20 Mai 2022 um 08:00

Nur allzu gerne inszeniert sich Emmanuel Macron als der europäischste Staatschef, den Frankreich je hatte. Am Abend des 24. April ließ er als Prolog zu seiner Siegesrede auf dem Pariser Champ de Mars  Beethovens „Ode an die Freude” spielen. Bereits im Mai 2017 hatte die europäische Hymne seinen großen Wahlabend-Auftritt im Innenhof des Louvre begleitet. Das Bekenntnis zum europäischen Projekt ist Macrons rhetorisches Markenzeichen, seine stärkste ideologische Konstante. Im Inneren soll er der große Macher sein, der Frankreich und Europa von Grund auf reformieren und zu neuer Größe verhelfen soll. Außenpolitisch gibt er sich als virtuoser Diplomat und Staatsmann, der die verlorene Souveränität auf EU-Ebene wiederherstellen und Europa mit neuen Ideen beleben will.

Wieviel davon den sprichwörtlichen Größenwahn im Élysée-Palast widerspiegelt und wieviel tatsächlich der Realität entspricht, bleibe dahingestellt. Klar ist jedenfalls, dass sich der französische Staatspräsident zunehmend innerhalb einer politischen Arena bewegt, die ganz andere Vorstellungen von Europa und seiner Zukunft hegt.

Bereits im Vorfeld der Präsidentschaftswahl waren in den Reihen der größten französischen Oppositionsparteien vermehrt EU-feindliche Ansätze vertreten worden. So schlug der frühere Brexit-Chefunterhändler und kurzlebige konservative Kandidat Michel Barnier im Herbst 2021 vor, den Vorrang des europäischen Gesetzgebung in Migrationsfragen per Volksentscheid auszusetzen. Der linke Volkstribun Jean-Luc Mélenchon distanzierte sich zwar von seinem früheren „Plan B” ab, der bei Nichterfüllung der Forderungen seiner Partei einen EU-Austritt Frankreichs vorsah, beharrte jedoch auch darauf, gegen die europäischen Verträge verstoßen zu wollen, falls sich die EU seiner sozialpolitischen Vision nicht beuge.

Dass auch die zwei großen Rechtsaußen-Parteien keine Anhängerinnen einer vertieften europäischen Integration sind, versteht sich von selbst. Auch sie unterstützen offiziell keinen „Frexit” – und doch machen sie aus ihrer Absicht, das transnationale Projekt EU zugunsten eines „Europa der Nationen” auszuhöhlen, kein Geheimnis.

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Aus dieser Spirale der Euroskepsis konnten sich Grüne und Sozialdemokraten am längsten heraushalten. Bis zum für sie ernüchternden Resultat des ersten Wahlgangs verteidigten beide Parteien europafreundliche, zum Teil sogar -föderalistische Positionen, und versuchten eine progressive Alternative zum europapolitischen Kurs Macrons aufzubauen. Doch der Grüne Jadot holte 5% der Stimmen und die Sozialistin Hidalgo 2%, während der bestplazierte linke Kandidat Mélenchon mit 22% den Sprung in die Stichwahl nur knapp verpasste.

Nun droht Jadots und Hidalgos Parteien der Untergang. In dem Versuch, ihre Mandate im Parlament zu retten, haben beide einem Wahlbündnis mit Mélenchons Partei in den anstehenden Parlamentswahlen zugesagt. Dabei gingen sie keine bloße Gelegenheitsallianz ein: Denn zum Wahlbündnis gehört ein gemeinsames Programm, in dem das Prinzip eines selektiven „Ungehorsams” gegenüber der EU verankert ist. Am 4. Mai kündigte der sozialistische Ex-Premier Cazeneuve aus diesem Grund seinen Rückritt aus der Partei an, während die Präsidentin der Region Okzitanien, im Süden des Landes, alternative Kandidaten unterstützen will.

In einer solchen Konstellation könnte es Emmanuel Macron überraschend leicht fallen, die Mitte-Links-Wählerschaft wieder für sich zu gewinnen. Und dies, obwohl nicht nur Macrons Bilanz in der Sozial- und Bildungspolitik, sondern auch sein Führungsstil und seine europapolitische Linie auf wenig Zustimmung in diesem Teil der politischen Öffentlichkeit trifft. Denn abgesehen von Macrons Liberalen scheinen sich alle anderen Parteien von einer positiven Haltung zur europäischen Integration verabschiedet zu haben – eine nicht-euroskeptische Alternative zur Präsidentenpartei und ihren Bündnispartnerinnen besteht schlicht und einfach nicht mehr. 

Die Strategie der verbrannten Erde hat sich für Macron bewährt. 2017 mit den Stimmen vieler reformistischer Mitte-Links-Wähler ins Amt gehoben, drängte er die Sozialistische Partei seines Vorgängers Hollande in die Bedeutungslosigkeit. In den Folgejahren erfolgte ein schrittweiser, aber eindeutiger Ruck nach rechts, durch den er den moderaten Flügel der konservativen Républicains ebenfalls für sich gewinnen konnte. Übrig blieben zwei Funktionärsparteien, die sich gegenüber den radikaleren Bewegungen von links und rechts jedoch kaum noch behaupten konnten. Nun kann Macron auch das proeuropäische Lager komplett besetzen, nachdem er die moderateren Kräfte von links und rechts faktisch dazu brachte, sich, wenn auch nur aus Opportunismus, von ihrem früheren pro-europäischen Kurs zu distanzieren.

Diese Entwicklung spielt Macron vorerst in die Karten. Doch mittelfristig ist sie desaströs. Denn keiner weiß, was aus Macrons Partei 2027 werden wird, wenn der Präsident den Élysée-Palast verlässt. Mittlerweile werden alle anderen, größeren Parteien in der nächsten Legislaturperiode euroskeptische Positionen vertreten müssen. In einem Land, das sich im europäischen Vergleich ohnehin durch hohe Euroskepis-Werte auszeichnet, könnte die weitere Legitimierung dieser Haltung durch die Politik gravierende Folgen haben.

Das scheint der Präsident auch gewollt zu haben. Indem er das Erbe und die Zukunft des europäischen Projekts für sich allein beanspruchte, machte er im stark polarisierten Frankreich jede pro-europäische Alternative zu ihm unmöglich. Und indem er sein persönliches Leitbild eines unternehmerischen, interventionistischen Europas nach neufranzösischem Vorbild mit der EU schlechthin gleichsetzte, nährte er sowohl innen- als auch außenpolitisch mächtige Gegenkräfte. Nach seiner zweiten Amtsperiode könnte sich Frankreich in ein Land verwandeln, das nur noch euroskeptische Bewegungen kennt und solche, die sich es nicht leisten können, nicht euroskeptisch zu sein.


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