Fans verfolgen das Spiel Polen-Russland in der "Fanzone" in Warschau am 12. Juni.

Multikulti-EURO 2012

Während sie die Europameisterschaft ausrichteten und dafür sorgten, dass Mannschaften und ihre Fans herzlich begrüßt wurden, entdeckten die Polen vor allem eines: Den kulturellen Austausch. Und seitdem sehen sie auch ihren Patriotismus mit ganz anderen Augen.

Veröffentlicht am 25 Juni 2012 um 10:34
Fans verfolgen das Spiel Polen-Russland in der "Fanzone" in Warschau am 12. Juni.

Überrascht sind nicht nur die Fans, sondern auch die Spieler: die Städte und Unterkünfte, in denen die Teams zu Gast sind, haben sich exzellent vorbereitet. Fahnen verschiedener Länder und Nationen schmücken die Fassaden zahlreicher Institutionen und die Balkons allerhand kleiner Häuser. Polen ist ein regelrechter Turm zu Babel geworden.

Auf der Liste der meistbesuchten Städte steht Warschau natürlich ganz oben. Dem Mix der Kulturen konnte aber auch die Provinz viel abgewinnen. Legionowo beispielsweise wurde „Kleines Griechenland“ umgetauft. Das Gebäude des Krisenmanagementzentrums ziert ein Schild, auf dem in englischer und griechischer Sprache steht: „Legionowo heißt Euch willkommen“. Das ist kein Zufall, zumal hier der Bus entlangfährt, der die griechischen Spieler zu ihren Trainingseinheiten nach Jachranki bringt. Die Anwohner wissen genau, wann der Bus vorbeikommt und halten an, um ihm zuzuwinken.

Legionowo bereitet sich seit mehreren Monaten auf die EM vor

Verschiedenste Veranstaltungen dienen dazu, die griechische Kultur und Küche bekannt zu machen. Die Stadt bereitet sich seit mehreren Monaten auf die EM vor. Legionowo ist gerade mal eine halbe Stunde von Warschau entfernt. An dem dortigen Sportzentrum zeigten verschiedenste Mannschaften Interesse. Die Griechen haben gewonnen, weil... sie die ersten waren. Und wochenlang fragten sich die Behörden, was sie alles anstellen könnten, damit die Griechen ihren Aufenthalt in guter Erinnerung behalten. Sie wechselten den Zaun um das Stadium aus, das sie den Fußballspielern zur Verfügung stellten, renovierten die Umkleideräume, erneuerten das Fußballfeld und besserten selbst die naheliegende Straße aus.

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Und das ist noch lange nicht alles: Die Sieger des jährlichen 10-Kilometer-Wettlaufs in Legionowo wurden mit Lorbeerkränzen geehrt – eine Hommage an die olympischen Spiele der griechischen Antike. Ein paar Leute fingen sogar an, Griechisch zu lernen. „Kalimera“ (Guten Tag), begrüßt uns ein Passant mit einem Lächeln auf den Lippen. Und die Einheimischen witzeln: „Möglich, dass Oliven bald unsere Lieblingsvorspeise sind.“

Tschechische Fans mit „Polska“-Schals um den Hals

Griechische Fahnen und Beschriftungen in griechischer Sprache. „Um die Ankunft der Griechen gebührend vorzubereiten, hat sich unsere Stadt ordentlich herausgeputzt. Allerdings gibt es gar nicht so viele Fans der peloponnesischen Mannschaft. Darum begeben wir uns in die Warschauer ‚Fanzone’, um ganz nah bei ihnen zu sein“, erzählt der in Legionowo lebende Andrzej Szeniawski.

Als er mit seiner kleinen Tochter die Fanzone in Warschau zum ersten Mal betrat, war das für ihn ein Kulturschock. „Ich sah Asiaten in weiß und rot [Polens Farben], die Schnickschnack verkauften: Schals, Trikots, Basecaps. Und Türken, die ebenfalls die polnische Fan-Kluft trugen, stellten sich für ein gemeinsames Foto neben sie“, berichtet er. Und noch überraschter war er über die tschechischen Fans mit „Polska“-Schals um den Hals. „In diesem Augenblick begriff ich, dass alle Besucher sich während der Europameisterschaft in Polen wie Polen fühlen und uns und unsere Mannschaft bei jedem Spiel unterstützen. Demzufolge entschied ich, mir das Polen-Russland-Spiel mit einer russischen Flagge anzusehen – um den Russen näher zu sein.“

Die EM ist der Beweis dafür, dass Patriotismus auch glücklich machen kann

Szeniawski will uns noch eine andere Überlegung mit auf den Weg geben: Unser Patriotismus ist nicht mehr das Eigentum einer einzigen sozialen Gruppe. „Bisher gab es für polnischen Patriotismus nur eine einzige Lesart: Wurde jemand mit einer Fahne auf der Straße gesichtet, verdächtigte man ihn sofort, der PiS [der nationalkonservativen Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit] anzugehören“, erläutert er. „Als ich [am Unabhängigkeitstag] am 11. November an einer Demonstration teilnahm [bei der es vor lauter nationalistischen Bewegungen nur so wimmelte], hörte ich Hooligans schreien: ‚Patriotismus muss wehtun!’ Die EM ist der Beweis dafür, dass Patriotismus auch glücklich machen kann und es alles andere als altmodisch ist, die Fahne wieder herauszuholen.“

Auch Opalenica stand plötzlich im Zentrum des Interesses. Die zwischen Posen und Nowy Tomyśl liegende Stadt zählt 10.000 Einwohner und wurde von der portugiesischen Mannschaft und ihrem Starspieler Ronaldo auserkoren. Auch hier gibt es kaum eigene Fans. Und dennoch ist die Stimmung hier irgendwie außerordentlich und seltsam belebt. Aus eigenen Stücken hängen die Bewohner portugiesische Fahnen neben die polnischen Flaggen. Und wo auch immer man hinblickt sieht man Willkommensgrüße.

Was haben wir von den Touristen aus dem Ausland gelernt?

„Danzig kleidet sich im spanischen Rot.“„Die Iren haben Posen grün gestrichen.“ Diese und andere Kommentare durchzogen die sozialen Netzwerke. Und nach dem sportlichen Aufeinandertreffen ging die Party in den Bars und Nachtclubs bis in die frühen Morgenstunden weiter.

Was hat den ausländischen Touristen in Polen so sehr gefallen? Die schnellen und bequemen Verkehrsmittel, die klar und leicht verständlichen Schilder an Straßen und Bushaltestellen, das leckere Essen und die schönen Mädchen.

Was haben wir von den Touristen aus dem Ausland gelernt? Ihrer Meinung nach sprechen wir gut Englisch, haben viel Sinn für Humor und Partys und sind ausgezeichnete Fans – auch wenn wir in Sachen Gesang noch ein paar Lektionen vertragen könnten. Diesbezüglich könnten wir uns von den Iren, in die wir uns alle verliebt haben, eine ordentliche Scheibe abschneiden.

Polen hat nicht nur seinen Ruf und seine Wirtschaft aufpoliert

Wir lieben sie für ihren Geschmack und ihre Fähigkeit, Niederlagen einzustecken. Für ihren Stolz und ihre Freude, und weil sie sich nicht lumpen ließen und ordentlich viel Geld in unseren Kneipen und Restaurants ausgaben. Aber auch weil sie uns versprochen haben, eines Tages wiederzukommen und nur Gutes über unser Land zu berichten. Das ist die beste Werbung, die man sich vorstellen kann.

Obwohl unsere Nationalmannschaft in dieser Europameisterschaft nicht einen Sieg nach dem anderen davongetragen hat, können wir ohne jede Übertreibung behaupten, dass die EM Polen und seine Menschen verändert hat. Dabei denke ich gar nicht so sehr daran, dass Polen seinen Ruf aufpoliert und seine Wirtschaft ordentlich davon profitiert hat. Damit meine ich auch nicht die Modernisierung unserer Wirtschaft und die Infrastruktur, die einen unglaublichen Sprung nach vorn gemacht hat. Ich denke dabei vielmehr daran, dass wir unsere nationalen Komplexe und Klischees dank der EM 2012 abschütteln konnten. Wir konnten uns bewusst machen, dass wir eine Nation sind, die nicht nur gastfreundlich, gut gelaunt und organisiert ist und seine Fußballmannschaft gemeinschaftlich geschlossen unterstützt, sondern auch dem bunten Multikulti gegenüber offen ist, der sich bei uns eingenistet und unseren Alltag in den vergangenen Wochen geprägt hat.

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