Griechische Küstenwache patrouilliert auf der Meergrenze zwischen Griechenland und der Türkei.

Niemand mehr im Mittelmeer

Die Seepatrouillen der Frontex-Agentur und die umstrittene Kooperation mit Libyen tragen Früchte: Die Migranten reisen weniger über das Mittelmeer nach Europa ein. Doch es finden sich neue Wege, die neue Notlagen auslösen.

Veröffentlicht am 24 Juni 2010 um 15:48
Griechische Küstenwache patrouilliert auf der Meergrenze zwischen Griechenland und der Türkei.

Der Sommer kündigt sich in migratorischer Hinsicht ungewöhnlich an. Denn diesen Sommer könnten die Bilder von dicht gedrängten Migranten auf baufälligen Barkassen, die die europäischen Ufer ansteuern, viel seltener sein als in den letzten Jahren, das ist aus den neuesten Zahlen des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) zu schließen, das für den Zeitraum 2009-2010 bei den anlaufenden Booten je nach Zielort einen 50- bis 95-prozentigen Rückgang verzeichnet.

So war Malta durch seine Fläche und seine hohe Bevölkerungsdichte noch vor drei Jahren einer schweren Krise ausgeliefert, weil jeden Sommer 1500 bis 3000 Migranten einreisten. Doch nach einem 50-prozentigen Rückgang von 2008 bis 2009 ist nach Angaben der maltesischen Behörden seit März kein einziges Boot an den Ufern der Insel angelaufen. Im April kündigte die Insel sogar ihren Rückzug aus den gemeinsamen Einsätzen mit der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex) an.

Spektakulärer Rückgang in Italien und Spanien

In Italien ist der Rückgang ebenso spektakulär, insbesondere auf der Insel Lampedusa. Das UNHCR-Büro in Rom schätzt die Verringerung von 2009 bis zum ersten Halbjahr 2010 auf 94 Prozent. Wie an anderen Orten zeichnete sich dieser Rückgang ab 2006 ab. Damals gingen 22.000 Migranten, die aus Nordafrika kamen, an den italienischen Küsten an Land. 2007 waren es nur noch 19.900 und 2009 nur noch 8.700. In Spanien schließlich gingen die Zahlen besonders stark zurück. Laut des UNHCR-Büros in Madrid von 2008 bis 2009 um rund 50 Prozent. 2006 gelang es 39.000 Migranten, an den verschiedenen Küsten der iberischen Halbinsel, insbesondere auf den Kanaren und den Balearen, an Land zu gehen. 2007 waren es nur noch 18.000 und 2008 nur noch 13.400.

Diese Zahlen wirken sich auch auf Frankreich aus, so der Leiter der zentralen Grenzpolizei, Frédéric Perrin. Seinen Angaben zufolge hat der "Migrationsdruck" auf die Region Calais und auf die Eisenbahnstrecke Ventimiglia-Paris, die von den Migranten von Italien aus benutzt wird, nachgelassen. Die vorläufigen Festnahmen sind seit Anfang des Jahres um 20 Prozent zurückgegangen. Zu den Ursachen für diesen Umschwung gehört Frontex. Die Patrouillen auf See wurden zahlenmäßig verstärkt und sind effizienter geworden, insbesondere aufgrund von bilateralen Abkommen mit den Herkunftsländern der Migranten. Auch hier hat die Wirtschaftskrise zugeschlagen.

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Schlüsselabkommen zwischen Italien und Libyen

Zu den Hauptbeteiligten an dieser Bilanz gehört jedoch Libyen. Nachdem es zu einem der wesentlichen Durchgangsländer, insbesondere in Richtung Italien, geworden war, verstärkte es ab Frühjahr 2009 seine Grenzkontrollen und auch ein diplomatisches Abkommen mit der Regierung Silvio Berlusconis trat in Kraft. Ein Abkommen, in welchem Italien nicht nur einen Scheck über fünf Milliarden Euro an Libyen ausstellte, sondern auch zugab, bei den Schäden, die den Libyern während der Kolonialzeit zugefügt wurden, eine Rolle gespielt zu haben.

Seitdem hat Libyen mit einer italienischen Firma einen Vertrag über 300 Millionen Euro für Sicherheitsmaterial – insbesondere Infrarotausrüstung – zur Kontrolle seiner Südgrenze abgeschlossen. Es hat sich auch zu Verhandlungen mit der Europäischen Union verpflichtet. Am 9. Juni wurde ein mit 60 Millionen Euro dotiertes "Orientierungsprogramm" unterzeichnet, das Klauseln über die Eindämmung der illegalen Immigration enthält. Alle diese Umwälzungen definieren die Landkarte der Mittelmeermigration neu. Die Migrationsströme haben sich nach Osten verlagert und das neue große Eintrittstor zu Europa ist nun die Türkei. Dem UNHCR-Büro in Istanbul zufolge haben die türkischen Behörden 2009 rund 70.000 Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung verhaftet. Eine enorme Zahl, die aber nur teilweise der Realität entspricht.

Marokkaner reisen über Bangkok in die Türkei ein

Schwer zu sagen, ob es sich um eine migratorische "Verlagerung" handelt. Die Migranten, die in der Türkei einreisen, sind oft Afghanen, Somalier oder Eritreer und stammen nicht aus Westafrika. Den Nichtregierungsorganisationen zufolge sitzen viele Migranten im Maghreb fest und warten dort auf bessere Zeiten. Da Marokkaner kein Visum nach Thailand brauchen, umgehen sie das Problem zum Teil durch Flüge von Marokko nach Istanbul via Bangkok. Von der Türkei aus haben sich jedenfalls zwei Hauptrouten entwickelt. Eine "Nordroute" über Bulgarien und Rumänien führt nach Nordeuropa und eine "Südroute" geht über Griechenland in Richtung Italien, Frankreich, Spanien...

Mit der neuen Sachlage kann Griechenland den Ansturm nur schwer verkraften. 2009 wurden laut dem UNHCR-Büro in Athen knapp 150.000 Migranten wegen illegaler Einreise und unberechtigtem Aufenthalt auf griechischem Landesgebiet verhaftet, das entspricht 75 Prozent der europäischen Gesamtzahlen, im Vergleich zu 50 Prozent im Jahr 2008. Seit Anfang des Jahres zeigen die Zahlen auch, dass der Landweg dem Seeweg vorgezogen wird. Eine der großen Sorgen der Nichtregierungsorganisationen und des Flüchtlingskommissariats bleibt in dieser neuen Konstellation jedoch das Los der Asylbewerber. Griechenland ist das europäische Land, das den Flüchtlingsstatus am seltensten vergibt. Die Türkei hingegen erkennt ihn den von außerhalb der EU kommenden Migranten gar nicht an. (pl-m)

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