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Auf der Mauer: „Verräter“. Fußgänger vor einer Plakatwand, die zum Generalstreik aufruft. Athen, November 2012.

Pulverfass verlorene Generation?

In den Jahren der Wirtschaftskrise und der politischen Desintegration nimmt ein neuer Generationenkonflikt Gestalt an. Doch in welcher Form wird die verlorene Generation wohl aufbegehren?, fragt ein niederländischer Kolumnist.

Veröffentlicht am 5 August 2013 um 11:21
Auf der Mauer: „Verräter“. Fußgänger vor einer Plakatwand, die zum Generalstreik aufruft. Athen, November 2012.

Augenblicklich sind in den Niederlanden 8,9 Prozent der Erwerbsbevölkerung ohne Arbeit, das sind ungefähr 675.000 Menschen in der Blüte ihres Lebens. Wir sind keine Ausnahme. In ganz Westeuropa sind rund acht Millionen junge Menschen ohne Arbeit, ohne Ausbildung. Vor ein paar Monaten errechnete The Economist, dass seit Beginn der Krise, ungefähr im Jahr 2007, die Jugendarbeitslosigkeit in der westlichen Welt um 30 Prozent auf 26 Millionen Menschen gestiegen ist.

Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass das nicht ohne Folgen bleiben kann. Das sehen selbst die europäischen Politiker ein. Bundeskanzlerin Merkel sieht in der Jugendarbeitslosigkeit eines der Hauptprobleme Europas und warnte vor der Gefahr einer „verlorenen Generation“. Wenn in den höchsten politischen Sphären dringender Handlungsbedarf verkündet wird, bestätigt das nur, wie ernst das Problem ist. Die Menschen fragen sich zur Recht, welche Maßnahmen denn getroffen werden können.

Krise der politischen Überzeugung

Da gibt nun es ein neues europäisches Programm. In den kommenden zwei Jahren soll Europa für die am härtesten getroffenen Länder — Griechenland, Spanien, Portugal — acht Milliarden Euro bereitstellen. Die Europäische Investitionsbank wird die Ausbildung junger Menschen, die Gründung von kleinen Unternehmen unterstützen und so weiter. Wird das helfen? Man kann nur hoffen.

Doch unsere Krise ist nicht nur eine ökonomische. Ganz Westeuropa und die Vereinigten Staaten leiden an einer Krise der politischen Überzeugung. Leider hat es keine Partei und kein Politiker geschafft, eine Mehrheit zu inspirieren. Überall im Westen herrscht in der politischen Elite seit Jahren ein deutliches Unbehagen. Kriege sind fehlgeschlagen, und bislang muss die große Mehrheit mit ansehen, wie sich ihre wirtschaftliche Lage stetig verschlechtert. Die Stimmung unter den Bürgern ist gereizt und ungeduldig geworden. Tagtäglich fühlen sich die Menschen in ihren Befürchtungen bestätigt. Der jüngste Beweis sind die Bilder aus Detroit, einst Weltzentrum der Automobilindustrie, jetzt in Ruinen und Brutstätte des Verbrechens.

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Generationsbruch

[[Diese Krise ist in jeder Hinsicht ein Bruch mit einer wohlhabenden und optimistischen Vergangenheit.]]. Heute stellt sich die Frage, wie die junge Generation damit umgehen wird. Mit Generationsbrüchen haben wir Erfahrung. Der historisch schockierendste ebnete dem Dritten Reich den Weg. Es entstand aus dem Revanchismus eines verlorenen Weltkriegs, der Wirtschaftskrise der Dreißigerjahre, der Schwäche der Weimarer Republik und dem rednerischen Talent von Adolf Hitler.

Es ist sicherlich nicht meine Absicht, hier vor einen „neuen Hitler“ zu warnen. Es gibt keinen. Es geht mir vor allem darum, festzuhalten, dass er in den Dreißigerjahren das deutsche Volk auf eine positive Art angesprochen hat. Man lese hierzu den Essay von Sebastian Haffner Anmerkungen zu Hitler. [Hitler] hat die deutsche Industrie wieder in Gang gebracht und die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft, unabhängig von Aufrüstung oder seiner Außenpolitik. Dass er Erfolg haben konnte, war zum Teil das Ergebnis eines tiefen Bruchs zwischen den Generationen.

In den Niederlanden haben wir eine relativ zeitnahe Erfahrung mit diesem Phänomen. Ich denke, ich könnte mich selbst als Beispiel nehmen. Während des Kriegs war ich ein Heranwachsender und erlebte zum Abschluss noch den Hungerwinter [während des letzten Kriegswinters verhungerten 20.000 Niederländer]. Nach der Befreiung erlebte ich das Scheitern der politischen Wende und den Anfang des Kriegs in Indonesien, der ebenfalls zum Scheitern verurteilt war und für den wir 150.000 Soldaten bis ans Ende der Welt geschickt haben. Die Regierung dachte, sie könnte danach einfach zur Tagesordnung übergehen. Nein. Der erste Beweis dafür ist der Roman von W.F.Hermans, Ich hab immer Recht(1951). Pflichtlektüre für alle, die wissen wollen, wie sich der Generationsbruch auswirken kann. In der Literatur kam dann die Bewegung der Vijftigers [„Fünziger“, eine literarische Bewegung junger Autoren der Fünfzigerjahre­] und danach die Spontis und Hausbesetzerszene.

Phantasieverlust

Wie der Generationsbruch verlaufen wird, ist schwer vorherzusagen. Im Laufe der Jahre ist klar geworden, dass die Niederlande der Vorkriegszeit endgültig Geschichte geworden sind.

Danach hatten wir die Generation jener, die in der Strenge des Kalten Kriegs ausgewachsen sind. Und heute, nach 1989, ist allmählich eine neue Zeit angebrochen. Wie haben jene, die 1990 so um die zehn Jahre alt waren, erst den wachsenden Wohlstand der Neuzigerjahre und dann den schleichenden Abstieg des darauffolgenden Jahrzehnts erlebt? Und wie die bis jetzt unheilbare Krise von heute? Welche Rolle spielen die sozialen Medien für diese verlorene Generation? Bereitet sich eine neue Form des Widerstands vor? Und welche Form wird dieser annehmen? [[Wäre das nicht ein gutes Thema für einen prophetischen Spielfilm oder einen soziologisch-politischen Dokumentarfilm?]]

Der größte Verlust unserer Zeit, denke ich manchmal, ist die fehlende Vorstellungskraft. Und wir merken es nicht einmal.

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