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Eine verlassene Ziegelfabrik dient Roma-Familien als Unterschlupf, Uhříněves, östlich von Prag. Foto: www.romove.radio.cz/ Mark Wiedorn

Rassismus drückt die Schulbank

Ein Drittel der tschechischen Roma-Kinder geht in Schulen für geistig Behinderte. Diese Situation, gegen die sich viele Verbände wehren, fällt am Ende auf den Staat zurück, der die sozialen und wirtschaftlichen Kosten tragen muss.

Veröffentlicht am 8 Dezember 2009 um 15:29
Eine verlassene Ziegelfabrik dient Roma-Familien als Unterschlupf, Uhříněves, östlich von Prag. Foto: www.romove.radio.cz/ Mark Wiedorn

Neuste Schätzungen der Weltbank zeigen, dass die Roma die Tschechische Republik jedes Jahr mehr als 16 Milliarden Kronen [640 Millionen Euro] kosten. Es sind aber weniger die Roma selbst, sondern eher ihre mangelnde Anpassung an die Gesellschaft. Für die Experten liegt der Grund dieses Phänomens hauptsächlich an der unterdurchschnittlichen Schulbildung, die den meisten Roma-Kindern zuteil wird. Ergebnis: Sie haben auf dem Arbeitsmarkt keine Chance, und der Staat verliert Geld, weil die arbeitslosen Roma keine ökonomischen Werte schaffen, keine Steuern zahlen und Sozialhilfe beziehen. Die Zahl der Weltbank lässt die "Nebenkosten" außer Acht, die durch die reduzierte Lebensqualität der sozial ausgeschlossenen Roma entsteht, wie zum Beispiel den Anstieg sozialer Spannungen, ethnischer Konflikte und Kriminalität.

Seit fast zwanzig Jahren warnen die nationalen und internationalen Nicht-Regierungsorganisationen vor der Tatsache, dass eine übertrieben hohe Zahl der Roma-Kinder auf Sonderschulen geht. Dies wurde vor kurzem von der ersten vom tschechischen Bildungsministerium beauftragten soziologischen Studie bestätigt. 30 Prozent der Roma-Kinder gehen auf eine Schule für geistig Behinderte. Von den weißen tschechischen Kindern sind es nur zwei Prozent, was dem Weltdurchschnitt entspricht. Die große Mehrheit der anderen Roma-Kinder geht auf "Zigeunerschulen", in denen die Ergebnisse nicht viel besser ausfallen als in den Schulen für geistig Behinderte.

Die Bevölkerung macht Druck

In Brünn ist der Bevölkerung die Ausgrenzung wohl bekannt. Aber die Schulverwaltung – nämlich das Rathaus von Brünn – ignoriert diese Wirklichkeit vollständig. Einem Gemeinderat zufolge gibt es keine "Klassen für die Roma" und "Klassen für die Weißen". De Kinder gingen vielmehr dort zur Schule, wo sie wohnten. Der Druck der Bevölkerung nach noch mehr Ausgrenzung wird immer stärker: Die weißen Familien von Brünn denken ganz einfach – wie auch sonst überall in der Tschechischen Republik – dass die Roma-Kinder dümmer und undisziplinierter als ihre eigenen Kinder seien und zu Gewalt neigten. Aus einer Petition kann man ihre Einstellung entnehmen: "Wir müssen schon mit ihnen leben, dann möchten wir ihnen wenigstens nicht in der Schule begegnen..."

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Der Druck nach Ausgrenzung ist an ein anderes Problem gekoppelt. Jedes Jahr hat fast ein Drittel der Roma-Kinder überhaupt keine Chance, in eine "Zigeuner-Grundschule" zu gehen, und wird dann, nachdem geistiger Rückstand festgestellt wurde, auf eine sogenannte "spezialisierte" Schule geschickt. Dies ist eine tschechische Besonderheit. In der Tschechischen Republik gibt es viermal so viele Sonderschulen wie in Österreich und hundertmal so viele wie in Schweden. Die Prozentzahl der tschechischen "mental zurückgebliebenen" Roma übersteigt den normalen Wert um das Zehnfache. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen: entweder sind die tschechischen Roma weniger intelligent als die der anderen Länder, oder unsere Gesellschaft ist rassistisch und drängt sie von ihrer Kindheit an systematisch in eine zweitrangige Ecke.

Nüchternes Rendite-Kalkül

Seit mehr als dreißig Jahren arbeitet der Psychologe Petr Klíma in einer Praxis für Kinderpsychologie, deren Leiter er heute ist. Praxen wie seine empfehlen, dass die Kinder auf sogenannte Sonderschulen gehen sollten. Er erzählt aus seinen Erfahrungen: "Die Kinder der Roma fallen massenhaft durch unsere Tests. Das denke ich mir nicht aus, sondern es ist eine Tatsache, dass 80 Prozent von ihnen an der Grenze zur geistigen Behinderung liegen." Klíma vertritt die Auffassung, dass die Roma-Familien dankbar für die Sonderschulen sein sollten, dank derer ihre Kinder wenigstens Grundlagen der Alphabetisierung erlernen können.

In der gesamten Tschechischen Republik geben Dutzende von Praxen die gleichen Ratschläge wie Klíma. "Ich glaube wirklich, dass die meisten meiner Kollegen diese Empfehlungen in gutem Glauben geben", meint Jana Zapletalová, Psychologin und Leiterin des Instituts für psychologische Beratung. "Das muss sich ändern. Aber es wird nicht leicht sein." Für sie geht der Methodenwechsel über den Weg, die Grundschulen umzugestalten. Vor allem muss ihr Budget erhöht werden, um die Klassen zu verkleinern, die Lehrer dafür ausgebildet, Hilfskräfte eingestellt und die Kinder individuell betreut werden.

Wir sollten die rein ökonomische Betrachtung nicht vergessen, die zeigt, dass die Tschechische Republik jährlich 16 Milliarden Kronen in einem Bildungssystem verliert, das sich Tausende von Arbeitslosen heranzieht. Von diesem Standpunkt aus scheint es eine wirtschaftlich kluge Wahl zu sein, Milliarden von Kronen in die Verbesserung des Bildungssystems zu investieren, denn sie verspricht einen guten Rückfluss der eingesetzten Mittel.

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