Rassismus nistet sich in Europa ein

Ob Beschimpfungen gegen eine französische Ministerin und ihre italienische Amtskollegin, ob Affenrufe mit denen Fußballspieler verhöhnt werden. Ob Islamfeindlichkeit oder Diskriminierungen von Roma: Immer offener treten rassistische Tendenzen zu Tage. Trotzdem darf man nicht nachgeben, meint der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun und mahnt zu mehr Aufklärung.

Veröffentlicht am 18 November 2013 um 16:48

Rassistisch zu sein ist ein Wesenszug des Menschen. So ist es nun einmal. Dementsprechend sollte man dies berücksichtigen, und [einerseits] dafür sorgen, dass er sich nicht ausbreitet, und [andererseits] gewährleisten, dass es gesetzliche Maßnahmen gegen ihn gibt. Jedoch reicht das längst nicht aus. Man muss [die Menschen] erziehen, die Funktionsweisen [des Rassismus] aufdecken, die absurden Grundlagen, auf denen er fußt, aufzeigen, und wachsam bleiben.

In letzter Zeit wird die französische Gesellschaft als äußerst rassistisch wahrgenommen. Im Grunde genommen ist sie aber nicht rassistischer als jede andere auch. Die Ablehnung des Fremden, des Anderen, all dessen, was als Bedrohung der Sicherheit angesehen wird, ist eine Art universeller Reflex, der sich in allen Gesellschaften nachweisen lässt. In bestimmten Fällen kann der Rassismus eine bestimmte Gemeinschaft ins Visier nehmen. Das bedeutet aber nicht, dass er alle anderen verschont. Mit anderen Worten bedeutet das: Es gibt keine Diskriminierung, wenn Hass ausgelebt wird. Jeder ist irgendwann an der Reihe.

[[In Europa ereignen sich derzeit ganz besonders verhängnisvolle Ausrutscher. Schließlich fängt Rassismus mit Worten an, droht dann aber den gefährlichen Weg zu nehmen, an dessen Ende Krematorien stehen.]] Die Tatsache, dass [die französische Justizministerin] Christiane Taubira bei einer Demonstration gegen die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare Ende Oktober als Affenweibchen verunglimpft wurde, ist nur der Anfang. Und wenn man nichts dagegen unternimmt, könnte aus der Beleidigung ganz leicht eine Prügelstrafe, Folter und sogar Mord werden (wie der Fall des jungen Ilan Halimi zeigt). Genau aus diesem Grund muss daran erinnert werden, dass es keinen Rassismus ‚light’ oder ‚entkoffeiniert’ gibt.

Frau Taubira hatte Recht damit, als sie zutiefst bedauerte, dass sich die politischen Führungsspitzen nicht gemeinsam gegen den Rassismus erhoben haben, dem sie zum Opfer gefallen war. In Italien musste eine andere, aus dem Kongo (bzw. seiner Hauptstadt Kinshasa) stammende Ministerin – Cecile Kyenge –, ebenso Häme ertragen: Von einigen, für ihr rassistisches Gedankengut bekannten Abgeordneten der Lega Nord wurde auch sie übel beschimpft. Zudem wurden dunkelhäutige Fußballspieler zur Zielscheibe eines tief verwurzelten Rassismus. Und wenn ein Regierungschef sich herausnimmt, seine Zuhörer mit einer Anspielung auf den „gebräunten Obama” zum Lachen zu bringen, macht man gleichzeitig den Weg für all jene frei, die sich [bis dahin] nicht wagten, ihren Rassismus zum Ausdruck zu bringen. Damit sendet man ihnen ein Signal [und ermutigt sie dazu], sich weiter vorzuwagen und ihre widerlichen Ideen zu kultivieren.

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Eine einfache Antwort auf die Schwierigkeiten im Leben

Europa hat nach und nach seine herausragende Stellung in der Welt verloren – nicht nur in wirtschaftlicher sondern auch in kultureller Hinsicht –, begünstigt die Verbitterung [der Menschen], aus der sich ganz schnell die allgemeine Geringschätzung bzw. Verachtung des und der Anderen entwickeln kann. [Beispielsweise] hat Spanien seine Beziehungen zum Islam noch immer nicht bereinigt. Die Einwanderer aus dem Maghreb werden [noch immer] „Mauros” [Mauren] genannt – wohlwissend, dass dieser Begriff abwertend ist und an die traurige Epoche der Inquisition erinnert. [[Die Wirtschaftskrise hat die Situation nicht einfacher gemacht. Man nimmt sich immer mehr vor jenen in Acht, die ärmer oder fremder sind als man selbst.]] Genau aus diesem Grund ist der Rassismus eine einfache und bequeme Haltung, die man in den schlimmsten Lebenslagen einnimmt. Schließlich muss genau dann ein Schuldiger gefunden werden. Früher war es der Jude, heute ist es der Moslem.

Rassismus gab es schon immer. Und die Politiker haben ein lukratives Geschäft aus ihm gemacht. Es ist leichter, Fremdenhass zu verbreiten, als Respekt für das Andere zu etablieren. Der Mensch neigt auf die niedrigsten Instinkten zurückzufallen, insbesondere dann, wenn bestimmte Situationen ihn verunsichert haben, aus die er keinen Ausweg mehr wusste. Rassismus ist die Faulheit des Denkens, um nicht zu sagen die Weigerung, überhaupt zu denken. Es wird immer jemanden geben, der an Ihrer Stelle denkt und Ihnen eine vereinfachte Analyse Ihres Unwohlseins anbietet.

Man erzählt uns heute, dass nicht alle Mitglieder der [französischen rechtsextremen Partei] Front National Rassisten sind. Vielleicht stimmt das sogar. Aber alle Rassisten können sicher sein, in diese Partei aufgenommen zu werden, solange sie ihre Überzeugungen mit höchster Diskretion behandeln. Solange sich die Politiker ausschließlich um ihre Wiederwahl sorgen, wird es immer wieder die niederträchtigsten Ausrutscher geben.

Hinzukommt auch die neue Fassade des Front National, die [der Partei] ein salonfähiges, ja sogar banales Image verleiht. Die Tatsache, dass sie ablehnt, als „rechtsextreme Partei” bezeichnet zu werden, zeigt auf interessante Art und Weise, wie einfach es ist, von einem [Zustand] in den anderen zu verfallen. Schaut man sich allein die Wortwahl an, könnte man behaupten, dass der extremistische Aspekt durch etwas ersetzt wurde, was noch viel weiter geht und noch viel gefährlicher ist: Die Banalisierung der Vorurteile und der Fremdenfeindlichkeit.

Mehr Aufklärung in den Schulen

Um die Ideen dieser Partei zu bekämpfen, muss es so etwas wie ein Recht auf systematische Gegendarstellung geben, [mit dessen Hilfe man sich] jedes Mal [wehren könnte], wenn einer ihrer Anführer Unwahrheiten verbreitet oder ein Programm vorschlägt, das nicht nur undurchsetzbar ist, sondern unser Land auch in den Ruin treiben könnte.

Zusätzlich zu dieser Wachsamkeit, an der es die anderen politischen Parteien so unsagbar fehlen lassen, müssen pädagogische Ansätze in den Schulen entwickelt und eine kontinuierliche und in die Tiefe gehende Aufklärungsarbeit geleistet werden. Solange ihr Geist noch unbefleckt ist, müssen Kinder erfahren, worauf Rassismus aufbaut, welche Geschichte und welche verheerenden Folgen er hat und wie unmenschlich er ist. [[Es muss deutlich ausgesprochen und ununterbrochen wiederholt werden, dass Angst und Ignoranz diese Plage nähren, deren Funktionsweise mit Wissen und Intelligenz ganz leicht aufgedeckt werden kann]]: Indem man diskutiert und Tabus ausräumt. Alle Themen müssen angesprochen werden. Und vor den Entgleisungen bestimmter Personen darf man die Augen nicht verschließen, denn auch sie entwickeln einen Rassismus – als Reaktion auf die Stigmatisierungen, denen sie ausgesetzt sind.

Indem man bekräftigt und aufzeigt, dass es so etwas wie Rassen einfach nicht gibt, schafft man es natürlich längst nicht, den Rassismus vollkommen auszulöschen. Allerdings handelt es sich dabei um eine Wahrheit, welche die eine oder andere Überzeugung ins Wanken bringen wird. Wenn äußerste Wut und Verzweiflung herrscht, mehren sich die rassistischen Ausschreitungen. Meist denkt man dann, der Rassismus nimmt zu, und [vergisst] dabei, dass er schon immer da war. Tief verwurzelt in den Denkweisen und immer bereit, sich dann auszubreiten, wenn sich die Niedergeschlagenheit [der Menschen] und ihre Arroganz verschärfen, die sie brauchen, um ihr eigenes Dasein zu empfinden, aber vor allem, um sich anderen überlegen zu fühlen.

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