Nachrichten Wahlen in Griechenland

Rettet Europa vor unseren Rettern

Am 17. Juni könnten die Griechen jene Parteien stürzen, die Technokraten und Finanzorganen die Hand reichen, Sparsamkeit predigen und, wie viele befürchten, der Demokratie das Wasser abgraben wollen. Darum sollten wir ihnen beistehen, meint der Philosoph Slavoj Žižek.

Veröffentlicht am 1 Juni 2012 um 11:24

Man stelle sich einen dystopischen Film vor, der ein zukunftsnahes Porträt unserer Gesellschaft zeichnet. Nachts durchkämmen uniformierte Wachen die halbleeren Straßen der Innenstadt. Sie jagen Einwanderer, Kriminelle und Landstreicher. Diejenigen, die sie fassen, werden brutal misshandelt. Was einer wirklichkeitsfremden Hollywood-Produktion ähnelt, ist in Griechenland derzeit bittere Wahrheit. Nachts ziehen die Schwarzhemden der neofaschistischen und den Holocaust leugnenden Bürgerwehr Goldenen Morgenröte durch die Straßen und verprügeln alle Einwanderer, die sie finden können: Afghanen, Pakistaner, Algerier. Bei den letzten Wahlen erreichte [die rechtsradikale Partei] sieben Prozent und hat nach eigenen Aussagen den Segen jedes zweiten Polizisten Athens. So setzt sich Europa im Frühling 2012 also zur Wehr.

Einwanderer stellen eine Bedrohung dar, gegen die sich die europäische Zivilisation schützen muss. Das Problem dabei ist nur, dass die Grausamkeit, mit der man sich verteidigt, die ‚Zivilisation’ viel stärker bedroht als so mancher Moslem. Bei so sympathischen Verteidigern braucht Europa keine Feinde.

Vor etwa einem Jahrhundert beschrieb G.K. Chesterton [das Problem] als Sackgasse, in die Religionskritiker hineingerieten: „Menschen, die im Namen der Freiheit und Menschlichkeit die Kirche bekämpfen, werfen am Ende Freiheit und Menschlichkeit fort, solange sie nur die Kirche bekämpfen können … Säkularisten bringen nicht die Idee vom Göttlichen zum Verschwinden, sondern zerstören vielmehr das Säkulare, falls ihnen das ein Trost sein kann.“

Viele liberale Krieger sind so versessen darauf, anti-demokratischen Fundamentalismus zu bekämpfen, dass sie im Kampf gegen den Terror in letzter Konsequenz selbst freiheitliche und demokratische Prinzipien über Bord werfen. Wenn ‚Terroristen’ bereit sind, diese Welt aus Liebe zu einer anderen zu vernichten, sind unsere Anti-Terror-Krieger schon lange bereit, Demokratie aus Hass auf das muslimische Andere zu Grunde zu richten.

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Einige von ihnen hängen so sehr an der Menschenwürde, dass sie bereit sind, Foltergesetze zu verabschieden, die sie garantieren sollen. Dadurch kehrt sich der Prozess um, in dem Religionsfanatiker beginnen, die zeitgenössische säkulare Kultur anzugreifen. In ihrem Eifer, all die so sehr gehassten weltlichen Elemente auszurotten, opfern sie in letzter Konsequenz ihre eigenen Religionsgrundsätze.

Allerdings geht die größte Gefahr nicht von den griechischen Anti-Einwanderungs-Kämpfern aus. Sie sind nur ein Nebenprodukt der wahren Bedrohung: Die Sparpolitik, die für das Dilemma Griechenlands verantwortlich ist. Die nächsten Wahlen werden am 17. Juni stattfinden. Mahnend erinnert uns das EU-Establishment daran, wie entscheidend diese Wahlen sind: Auf Messers Schneide steht nicht nur das Schicksal Griechenlands, sondern ganz Europas. Das – in ihren Augen richtige –Ergebnis würde den schmerzhaften aber notwendigen Prozess der Genesung kraft Sparmaßnahmen beschleunigen. Geht die Wahl anders aus und gewinnt die ‚linksextreme’ Partei Syriza, wird Chaos ausbrechen. Es wäre das Aus der (europäischen) Welt, wie wir sie kennen.

Die Untergangspropheten liegen richtig. Nur nicht so, wie sie es gern hätten. Diejenigen, die unsere demokratischen Absprachen sonst immer kritisieren, beklagen, dass wir bei Wahlen keine wirkliche Wahl haben. Stattdessen hätten wir nur die Wahl zwischen einer Mitte-Rechts und einer Mitte-Links Partei, deren Programme sich im Wesentlichen kaum unterscheiden. Am 17. Juni wird es eine wirkliche Wahl geben: Zwischen dem Establishment auf der einen Seite (Neo Demokratia und Pasok) und Syriza auf der anderen. Und wie immer, wenn es eine wirkliche Alternative gibt, zittert das Establishment und behauptet: Wird die falsche Wahl getroffen, drohen Chaos, Armut und Gewalt.

Allein die Möglichkeit, dass Syriza gewinnen könnte, sorgte auf den Märkten für Schockwellen. Ideologische Prosopopöie sind voll im Trend: Märkte reden ganz so, als wären sie Menschen, drücken ihre ‚Sorge’ über das aus, was passieren wird, wenn aus den Wahlen keine Regierung hervorgeht, die hartnäckig am Sparprogramm von EU und IWF und den Strukturreformen festhält. Den Bürgern Griechenlands fehlt die Zeit, um sich über diese Aussichten ernsthafte Gedanken zu machen. Tagtäglich stehen sie vor mehr als genug Dingen, um die sie sich kümmern müssen. Ihr Lebensstandard hat ein so niedriges Niveau erreicht, wie es Europa seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat.

Solche Prognosen erfüllen sich von selbst, verbreiten Panik und bewirken genau das, wovor sie eigentlich warnten. Sollte Syriza gewinnen, werden wir am eigenen Leib erfahren, was passiert, wenn man versucht, den Teufelskreis der gegenseitigen Komplizenschaft von Brüsseler Technokraten und Anti-Einwanderungs-Populismus zu brechen. Das zumindest hofft das EU-Establishment. Deshalb machte Syriza-Chef Alexis Tsipras kürzlich in einem Interview unmissverständlich klar, dass die Panikbekämpfung absolute Priorität haben wird, sollte [seine Partei gewinnen]: „Die Menschen werden ihre Ängste überwinden. Sie werden ihnen nicht erliegen. Sie werden sich nicht erpressen lassen.“

Syriza muss eine nahezu unmögliche Aufgabe lösen. Ihre Stimme ist nicht diejenige linksextremen ‚Wahns’, sondern die der Vernunft, die lautstark Kritik am Wahnsinn der Marktideologie übt. Sie haben die den linken Flügel kennzeichnende Angst überwunden und sind nun bereit, die Macht zu übernehmen. Sie haben den Mut, das Durcheinander, das andere angerichtet haben, wieder in Ordnung zu bringen. Sie werden mit einer starken Kombination aus Grundsätzen und Pragmatismus regieren müssen. [Einer Kombination] aus demokratischem Engagement und der Bereitschaft, auf den erforderlichen Gebieten schnell und entschlossen zu handeln.

Wenn sie auch nur die geringsten Erfolgschancen haben wollen, brauchen sie Zeichen der Solidarität aus ganz Europa: [Es reicht nicht aus, dass] jedes einzelne europäische Land [Griechenland] anständig behandelt. Es braucht auch wesentlich kreativere Ideen, beispielsweise die Förderung von solidarischem Tourismus im kommenden Sommer.

In seinen Beiträge[n] zum Begriff der Kultur stellte T.S. Eliot fest, dass es Momente gibt, in denen man nur die Wahl zwischen Irr-Glauben und Nicht-Glauben hat. Kurzum, wenn eine Glaubensspaltung die einzige Möglichkeit ist, eine Religion am Leben zu erhalten. In dieser Situation befindet sich Europa momentan. Nur ein neuer ‚ Häresie’, wie ihn Syriza derzeit bietet, kann das retten, was im EU-Vermächtnis noch wert ist, gerettet zu werden: Demokratie, Vertrauen in die Menschen, auf Gleichheit bedachte Solidarität, usw. Das Europa, das uns blüht, wenn Syriza ausgebootet wird, ist ein „Europa asiatischer Werte“, das zwar nichts mit Asien zu tun hat, aber dem Trend des postmodernen Kapitalismus folgt, der zunehmend auf Demokratie verzichtet.

Genau das ist das Paradox, das die ‚freie Abstimmung’ in demokratischen Gesellschaften stärkt: Unter der Bedingung, dass man die richtige Wahl trifft, kann man frei wählen. Genau aus diesem Grund wird eine falsche Wahl (wie sie in Irland getroffen wurde, als man dort die EU-Verfassung ablehnte), als irrtümlicher Fehler behandelt, woraufhin das Establishment sofort eine Wiederholung des ‚demokratischen’ Prozesses fordert, um den Fehler wieder zu beheben. Als Giorgos Papandreou in seiner damaligen Funktion als Regierungschef Ende des vergangenen Jahres eine Volksabstimmung zum Rettungsschirm vorschlug, lehnte man das Referendum selbst als falsche Wahl ab.

In den Medien kursieren zwei große Erzählungen über die Griechenland-Krise: Die deutsch-europäische Geschichte (mit den unverantwortlichen, faulen, konsumfreudigen und steuerhinterziehenden Griechen, die unter Kontrolle gebracht werden und denen man Haushaltsdisziplin beibringen muss) und die griechische Geschichte (in der von Brüssel oktroyierte neoliberale Technokraten unsere nationale Souveränität gefährden). Als man irgendwann nicht mehr die Augen vor der Not des griechischen Volkes verschließen konnte, entstand eine dritte Erzählung: Die Griechen werden nun als humanitäre Opfer dargestellt, die Hilfe brauchen. Als hätte ein Krieg oder eine Naturkatastrophe das Land verwüstet. Alle drei Geschichten sind falsch. Die dritte ist aber bei weitem die widerlichste. Die Griechen sind keine passiven Opfer: Sie führen Krieg. Gegen das EU-Wirtschaftsestablishment. Und was sie in diesem Kampf brauchen ist Solidarität. Schließlich ist es auch unsere Schlacht.

Griechenland ist kein Ausnahmefall. Es ist eines der größten Versuchsfelder für neue sozio-ökonomische Modelle mit potenziell unbeschränkten Anwendungsmöglichkeiten: Eine entpolitisierte Technokratie, in denen Finanziers und andere Experten Demokratie zerstören dürfen.

Indem wir die Griechen vor ihren sogenannten Rettern bewahren, retten wir Europa auch vor sich selbst.

Dieser Artikel erschien zuerst in der London Review of Books.

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