Nachrichten Krise in der Eurozone
Wir müssen nicht gerettet werden! Der irische Regierungschef Brian Cowen.

Rettet Irland, nicht seine Eliten

Die irische Schuldenkrise steht bei der Konferenz der Finanzminister in Brüssel ganz oben auf der Tagesordnung. Der irische Kolumnist Fintan O’Toole warnt, dass eine Rettungsaktion für das wirtschaftlich verkrüppelte Land ohne eine Umorganisation der politischen Institutionen nicht funktionieren kann.

Veröffentlicht am 16 November 2010 um 16:16
Wir müssen nicht gerettet werden! Der irische Regierungschef Brian Cowen.

Die Rettungsaktion für Irland, wann immer sie auch erfolgt, wird nicht nur ein Wendepunkt in der Landesgeschichte, sondern auch ein entscheidender Moment für die Europäische Union selbst sein. Die Art und Weise, wie die EU mit dem säumigen Kleinstaat umgeht, wird am besten zeigen, ob sie immer noch als soziales und politisches Projekt auf dem Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs aufbaut, oder ob sie nur ein weiterer Behelf im begrenzten Interesse der Reichen ist.

Die Regierung kann sagen, was sie will (dieser Quelle traut sowieso niemand mehr!), doch die Schlüsselfrage bezüglich des Rettungsplans ist nicht, ob er tatsächlich durchgeführt wird, sondern eher unter welchen Bedingungen. Wie hoch ist der Zinssatz? Wieviel Zeit hat Irland, um das Geld zurückzahlen und das mythische Ziel des dreiprozentigen Haushaltsdefizits zu erreichen?

Die Lektionen der Geschichte haben vor allem die Deutschen gelernt

Das mag nach technischen, finanzpolitischen Fragen klingen. In Wirklichkeit sind diese Fragen jedoch politisch und moralisch. Sie gehen an den Kern des Projekts Europa. Die EU existiert, weil eine Lektion auf die schrecklichste Art gelernt wurde: durch den Aufstieg der Barbarei und den destruktivsten Konflikt der Weltgeschichte. Diese Lektion ist ganz einfach: Das nationale Interesse jedes europäischen Landes ist mit dem Wohlergehen jedes anderen europäischen Landes verbunden. Oder, noch einfacher: Es liegt in niemandes Interesse, dass ein Nachbarland implodiert.

Das Land, das dies am besten weiß, ist jenes, das heute unser Schicksal in Händen hält: Deutschland. Die Deutschen erlebten zwei kontrastierende Beispiele für die Folgen schändlichen Verhaltens. Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde beschlossen, sie zu strafen und ihnen eine Lektion zu erteilen. Jeder kennt das Resultat: ein dementes, gefährliches Deutschland.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Irland ist zu schwach für eine Züchtigung

Am Ende des Zweiten Weltkriegs, als Deutschland sich sogar noch abscheulicher benommen hatte, lag der Gedanke nahe, es noch härter strafen zu wollen. Der anfängliche Drang war, Deutschland in Grund und Boden zu stampfen – eine durchaus vertretbare Reaktion. Doch Erinnerung und Weisheit setzten sich durch. Man half Deutschland stattdessen wieder auf die Beine.

Wir sind zu schwach für eine Züchtigung. Wir brauchen keine Strafe – wir brauchen Hilfe. Und Deutschland ist selbst nicht ganz unbescholten. An der Krise ist zweifellos unsere eigene einheimische Idiotie schuld, doch die deutschen Banken waren die enthusiastischsten von jenen, die uns in den Boomjahren Kredite gaben. Und Angela Merkel hätte uns eine Menge Ärger ersparen können, wenn sie im September 2008 gesagt hätte, was sie letzte Woche über die Verlustteilung mit den Gläubigern sagte. Deutschlands Erkenntnis, dass pauschale Bankenrettungen heller Wahnsinn sind, kommt für uns nur ein bisschen zu spät.

Rettung des irischen Klüngels macht keinen Sinn

Die Grundfrage geht jedoch weit über detaillierte Schuldzuschiebungen hinaus und schneidet das wesentliche Grundprinzip der EU selbst an. Ihre unerschütterlichen Grundsätze, aufgeklärter Eigennutz, Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit, stehen auf dem Spiel. Eine Bestrafung der irischen Bevölkerung – insbesondere der verletzlichsten Menschen, die unter der Zerstörung der öffentlichen Dienstleistungen am stärksten leiden werden – wäre wirtschaftlich dumm. Doch es würde auch den Anspruch der EU auf ihre moralischen statt nur pragmatischen Grundlagen untergraben.

Ebenso wichtig ist jedoch der andere Aspekt des Abkommens. Es hat keinen Sinn, uns zu retten, wenn dadurch allein die Systeme und die politische Kultur, die den ganzen Schlamassel hervorgebracht haben, aufrechterhalten werden. Die EU könnte jetzt sofort alle unsere Schulden auslöschen und wir hätten in zehn Jahren wieder eine Krise. Um es brutal auszudrücken: Wir sind unfähig, uns mit unseren derzeitigen Institutionen und Einstellungen selbst zu regieren.

Deutsche, behaltet euer Geld

Also ist die Gegenseite einer fairen, rationalen Rettungsaktion – mit niedrigen Zinssätzen und einer Zehnjahresfrist – eine Revolution unserer politischen Institutionen, der öffentlichen Ordnung und der Verwaltungsmodelle.

Wenn der deutsche Steuerzahler daran glaubt, dass Leute, die nichts aus den Konsequenzen ihres Handelns gelernt haben, davon ausgehen, dass sie sich dasselbe immer wieder erlauben können, dann hat er Recht. Also ist das die andere Frage, die sich die EU stellen muss: Retten wir ein Land oder retten wir ein abgetakeltes System von Klüngelei, Unfähigkeit und politischen Intrigen? Im ersten Fall hat die EU eine Bewährungsprobe bestanden. Im zweiten täten die Deutschen gut daran, ihr Geld in der Tasche zu behalten.

Übersetzung von Patricia Lux-Martel

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema