Im Frühjahr 2022 wurden drei Mitarbeiter der Sonderbeobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Ukraine – Dmitro Schabanow, Maxim Petrow und Wadim Golda – von russisch kontrollierten Kräften in den besetzten Regionen Luhansk und Donezk gewaltsam festgenommen.
Zuvor, am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland seine groß angelegte Invasion der Ukraine begann, hatte die OSZE ihre Mission dort abrupt beendet - gerade als Beobachter*innen vor Ort am dringendsten gebraucht wurden. Die Organisation gab an, ihre drei Mitarbeiter aus der Ukraine evakuiert zu haben, doch tatsächlich wurden sie als Lokalkräfte zurückgelassen.
Die ukrainischen Staatsangehörigen Dmitro Schabanow und Maxim Petrow hatten seit den ersten Tagen nach der Machtübernahme durch Russland im Jahr 2014 im besetzten Gebiet der Oblast Luhansk gearbeitet – der eine als Sicherheitsassistent, der andere als Übersetzer. Beide verfügten über offizielle OSZE-Zertifikate, die sie als Vertreter einer internationalen Beobachtungsmission auswiesen.
Trotzdem wurden Petrow und Schabanow im September 2022 von einem Gericht in Luhansk wegen „Verrats” und „Arbeit für den US-Geheimdienst” zu 13 Jahren Haft verurteilt. Wadim Golda erhielt im Juli 2024 in Donezk eine 14-jährige Haftstrafe. Alle diese Urteile wurden von illegitimen Gerichten in sogenannten separatistischen Republiken gefällt. Anfang 2025 wurden ihre Fälle nach der Annexion von vier teilweise besetzten ukrainischen Regionen durch den Kreml mit dem russischen Strafrecht in Einklang gebracht.
Die drei Männer wurden in abgelegene Hochsicherheitsgefängnisse tief im russischen Uralgebiet deportiert, wo sie seither unter harten Bedingungen und in extremer Isolation leben müssen. In diesen Strafkolonien verschwinden Menschen – rechtlich, physisch und psychisch. Berichten zufolge hat sich Maxim Petrows Gesundheitszustand rapide verschlechtert, aber seine Familie hat kaum eine Chance, Medikamente von Luhansk in den russischen Ural zu schicken.
2025 feiern die Abkommen von Helsinki ihren 50. Geburtstag - ein prägender Moment in der Geschichte der OSZE. Darüber hinaus hat Finnland 2025 den Vorsitz der Organisation inne, die im Laufe der Jahre zwar Momente von großer Bedeutung erlebt hat, aber zunehmend bedeutungsloser erscheint.
Positiv zu vermerken ist, dass sie heute eine der wenigen Institutionen ist, die sich noch mit der Überwachung der Menschenrechte in Zentralasien befasst. 2025 jedoch offenbart die anhaltende Inhaftierung der drei ukrainischen OSZE-Mitarbeiter auch etwas Erschreckendes über den Zustand des Völkerrechts: Internationale Institutionen, die es schützen sollen, sind nicht einmal in der Lage, ihre eigenen Beschäftigten zu beschützen.
„Die größte Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist der allgegenwärtige Zynismus. Normalisierung von Gräueltaten”
Die OSZE und der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte haben formelle Erklärungen abgegeben, in denen sie ihre „Besorgnis” über die Inhaftierungen zum Ausdruck bringen. Besorgnis? Das reicht natürlich nicht aus.
Ukrainische Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen dokumentieren seit über einem Jahrzehnt die politische Gewalt Russlands. Anfangs stand ihre Arbeit im Einklang mit dem moralischen Erbe des Helsinki-Abkommens, das autoritäre Regime zwang, die Menschenwürde anzuerkennen. Inzwischen glauben sie jedoch zunehmend, dass es nur einen Weg gibt, die Menschen in den besetzten Gebieten zu schützen: ihre gewaltsame Befreiung. Erst nachdem russische Truppen aus Butscha, Cherson und Isjum vertrieben worden waren, hörten die Verfolgungen der lokalen Bevölkerung auf. Viele Ukrainer*innen sind zu der schmerzhaften Erkenntnis gelangt, dass das Völkerrecht Gräueltaten nicht verhindern und auch keine Menschenleben retten kann.
Seit Jahren wirken Institutionen wie die OSZE wie ausgehöhlt. Manche wollen sie sogar ganz aufgeben. Scheinbare Maßnahmen wie Erklärungen, Verlautbarungen oder Resolutionen schaffen die gefährliche Illusion, dass etwas getan wird, obwohl in Wirklichkeit nichts geschieht. Für uns Ukrainer*innen, die wir im Krieg die Realität verschärft wahrnehmen, wird alles um uns herum automatisch einer Realitätsprüfung unterzogen, insbesondere unsere Werte und Ideale.
Menschenrechtsverletzungen sind mittlerweile ein gängiges Gesprächsthema
Wir müssen noch eine weitere aktuelle Veränderung der politischen Realität berücksichtigen. Früher war der Kampf gegen Heuchelei eine Sache von Idealist*innen. Es gab eine Zeit, in der Autokrat*innen zumindest so taten, als würden sie internationale Regeln befolgen. Heute prahlen sie damit, diese zu brechen. Anstatt ihre Verbrechen zu verbergen, begehen sie so viele, dass es schwerfällt, sich nicht von dem Ausmaß der Gräueltaten überwältigen zu lassen. Was daraus folgt, ist ein Gefühl der Ohnmacht.
Im Zusammenhang mit den russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine hat der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin wegen der rechtswidrigen Deportation und Überstellung ukrainischer Kinder erlassen, mit der er offen im russischen Fernsehen prahlte. Durch Donald Trumps Rhetorik ist der internationale Diskurs noch weiter abgeglitten, etwa wenn er „eine Übernahme Grönlands nicht ausschließt”. Genauso offen diskutiert der US-Präsident mit israelischen Regierungsvertreter*innen über die Deportation von Palästinenser*innen, die derzeit in Gaza verhungern. Solche Diskurse sind keine Randerscheinungen mehr, sondern sie sind zum Mainstream geworden.
Vielleicht ist die eigentliche Frage also nicht, ob Institutionen heuchlerisch sind, sondern ob Heuchelei nicht doch besser ist als die Normalisierung einer offensichtlichen Missachtung des Rechts. Zumindest gibt Heuchelei vor, dass etwas wichtig ist.
Letztes Jahr hatte ich die Gelegenheit, Studierenden in Mexiko Dokumentarfilme aus dem Reckoning Project vorzustellen. Dabei handelt es sich um eine Initiative ukrainischer und internationaler Journalist*innen, Anwält*innen und Analyst*innen zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen. Normalerweise gebe ich in meinen Vorlesungen und öffentlichen Reden immer die offizielle Zahl der mutmaßlichen Kriegsverbrechen an, die von der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft registriert wurden. Damals lag diese Zahl bei 130.000, heute sind es bereits 167.000.
Doch kurz vor meiner Präsentation erfuhr ich, dass in Mexiko derzeit offiziell über 111.000 Menschen vermisst werden. Was würden die ukrainischen Zahlen also für das Publikum in Mexiko bedeuten? Ein mexikanischer Kollege half mir bei der Antwort: „Solche Zahlen müssen unbedingt genannt werden. In der Ukraine dokumentieren Sie die Verstöße immerhin noch, obwohl Ihr Land täglich angegriffen wird. In Mexiko gibt es zwar keinen Krieg, und trotzdem haben viele aufgehört, überhaupt noch Anzeige zu erstatten.”
Die größte Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist der allgegenwärtige Zynismus. Die Normalisierung von Gräueltaten. Autoritäre Regime verbreiten aktiv die Vorstellung, dass nichts wirklich von Bedeutung ist – dass Einzelpersonen machtlos sind und kollektives Handeln sinnlos ist. Damit versuchen sie, internationale Institutionen zu delegitimieren, indem sie die globale Sicherheitsarchitektur als von Grund auf fehlerhaft darstellen. In gewisser Hinsicht haben sie nicht ganz Unrecht. Aber sollten wir das akzeptieren?
Die russische Invasion in der Ukraine hat die Grenzen des Völkerrechts offenbart und die Unzulänglichkeit von Sicherheitsgarantien aufgezeigt, die ausschließlich auf multilateralen Verträgen beruhen. Sie müssen durch Macht untermauert werden. Das Vertrauen in diese Mechanismen hat erheblich abgenommen, und höchstwahrscheinlich werden sich die Staaten in Zukunft zunehmend auf konkretere und regional verankerte Sicherheitsvereinbarungen stützen. Doch trotz dieser Unzulänglichkeiten sollten bestehende Institutionen weiter gefördert werden. Die Auflösung der US-amerikanischen Behörde für internationale Entwicklung, USAID, zeigt, wie leicht Institutionen zerstört werden können. Der Aufbau neuer Institutionen dagegen wird viel schwieriger werden.
In einem Interview sagte der Chef der Streifenpolizei von Mariupol, Mikhailo Verschynyn, der 123 Tage in russischer Gefangenschaft verbrachte und brutal gefoltert wurde: „Ich wäre ein glücklicher Mann, wenn die Genfer Konventionen wenigstens zu 10 Prozent umgesetzt würden.” Eine Aussage, die sowohl vernichtend als auch erhellend ist – nicht weil sie das Missachten der Regeln aufdeckt, sondern weil sie uns daran erinnert, was das Nichtvorhandensein der Genfer Konventionen bedeuten würde.
Anstatt also die Ordnung ganz aufzugeben, sollten wir alles tun, um wieder zu einem regelbasierten internationalen System zurückzukehren.
Wir müssen akzeptieren, dass selbst die besten Maßnahmen heute nicht von utopischen Ideen geleitet werden, sondern schlicht und einfach von der Notwendigkeit, Schlimmeres zu verhindern. Das reicht auf lange Sicht jedoch nicht aus. Der Kampf gegen etwas mag uns kurzfristig mobilisieren. Aber um den Marathon zu überstehen, müssen wir wieder für etwas kämpfen.
Der Krieg hat uns Ukrainer*innen pragmatisch werden lassen. Wenn eine Aufgabe zu groß und überwältigend erscheint, erstarren wir nicht vor Angst, sondern beginnen mit dem, was klein und machbar ist.
Bevor wir also über eine neue Weltordnung oder die Reform der Institutionen diskutieren, sollten wir mit etwas Konkretem beginnen. Zum Beispiel damit, dass die OSZE ihre Mitarbeiter aus den sibirischen Gefängnissen befreit.
Dies könnte der ultimative Realitätscheck sein. Während seiner Tätigkeit als Übersetzer für die OSZE in der Region Luhansk studierte Maxim Petrow übrigens auch internationales Recht. Nach allem, was er durchgemacht hat, könnte er uns wahrscheinlich die ehrlichste Antwort darauf geben, ob das, was er gelernt hat, heute noch Wert hat.
Dieser Aufsatz basiert auf Nataliya Gumenyuks Beitrag zur Helsinki-Debatte über Europa im Mai 2025. Er wird in Zusammenarbeit mit Debates on Europe veröffentlicht
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