Ideen Archipel Ukraine | Polen

Butscha, daran werde ich mich erinnern

Als der Warschauer Autor Leszek Jazdzewski von der Invasion der Ukraine erfuhr, fühlte er sich krank vor Hilflosigkeit. Während viele seiner Landsleute ihre Pässe erneuerten, um Polen im Notfall verlassen zu können, sprach er am Bahnhof mit ukrainischen Flüchtlingen. In gebrochenem Russisch. „Die gebrochene Sprache eines gebrochenen Landes“ sagt er voll bitterer Ironie.

Veröffentlicht am 25 August 2022 um 15:56

Der Krieg begann an einem Donnerstag. Überall sah man lange Menschenschlangen vor den Konditoreien. Es war der letzte Donnerstag vor Aschermittwoch, an dem man sich von Krapfen und Engelsflügeln zu ernähren hat. Nicht umsonst ist von einem „fetten Donnerstag” die Rede. Während ich durch die Straßen lief, suchte ich nach Zeichen. Ich starrte in die Gesichter der Leute. Wissen sie es? Macht es ihnen etwas aus? Das war schwer zu sagen. Die meisten schienen ganz normal zu sein, müde, geistesabwesend, gelangweilt. Einige in der Schlange schauten auf ihre Telefone. Zumindest die Donut-Esser müssten also auf dem Laufenden sein. 

„Fühlt euch nicht sicher. Der Dichter erinnert sich. Sie können ihn töten – ein Neuer wird geboren. Taten und Worte verblassen nicht“, schrieb Czeslaw Milosz, bereits im Exil, 1950.

Ich konnte es nicht ertragen. Etwas so Alltägliches, so Angenehmes zu tun an dem Tag, an dem der Krieg begann. Die Sache mit den historischen Ereignissen ist die, dass sie genauso sind wie alle anderen. Nur, dass uns ein winziger Aspekt des ansonsten gewöhnlichen Tages noch jahrelang in Erinnerung bleiben wird. Was trug Stalin während des Treffens in Jalta? Mit welchen Worten unterhielt Chamberlain die fröhliche Menge, als er frisch aus München in London landete? Welche Stadt besuchte der Erzherzog Franz Ferdinand am späten Vormittag des 28. Juni 1914? Es war übrigens ein Sonntag.

Ich ging an diesem historischen Tag durch die Straßen meiner Heimatstadt und fühlte mich furchtbar. Václav Havel hat über die "Macht der Machtlosen" geschrieben. Ich aber fühlte keine solche Macht. Ich war körperlich krank vor Hilflosigkeit. Ich klebte an meinem iPhone und hasste mich dafür. Plötzlich hatte ich eine Eingebung. Blumen. Ich könnte Blumen kaufen. Und sie vor dem ukrainischen Honorarkonsulat niederlegen. 

Zufälligerweise war es nur einen Block entfernt. Das Glück ist mit den Mutigen. Ich konnte mich wieder auf eine Sache konzentrieren. Vielleicht könnte ich Gelbe und Blaue bekommen, das wäre noch besser.

Das ukrainische Konsulat liegt an der Hauptstraße, mitten im Stadtzentrum. Zu meiner Überraschung gab es dort keine Demonstranten, niemanden, der etwas wollte, keine Fahnen. Es gab eine Fernsehkamera mit zwei Journalisten, aber die waren in einer Minute wieder weg, weil es nichts zu filmen oder zu berichten gab. Als ich mit meinen Blumen zurückkam, war keine einzige Seele vor dem Konsulat. Ich war erleichtert. Ich war gleichzeitig verlegen und entschlossen, zumindest etwas zu tun.


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Gelbe Blumen in dem Laden zu kriegen war kein Problem, aber sie hatten keine blauen, nicht einmal diese Plastikblumen. Die haben wohl gerade keine Saison. Nicht im Februar. Aber sie haben mir einen kleinen blauen Vogel als Dekoration gegeben. Das sah gut aus, und als ich meine Blumen als Erster an der Messingplatte mit dem Wort “ukrainisch” an der Wand befestigte, fühlte ich mich schon besser. 

Das hielt aber nicht lange an. Nach zwei langen Tagen und einer Nacht begann ich, um 3 Uhr morgens meinen ukrainischen Freunden in Kiew zu schreiben. Einige unserer früheren Chats schienen aus der Zeit zu stammen, als Facebook außerhalb der USA gerade aufkam. Ich las, was wir einander geschrieben hatten, Dinge, die längst vergangen waren, dringende Fragen, die vergessen waren. Diese jungen Leute, die ich kaum wiedererkannte, waren wie Vorfahren, mit denen wir heute eine entfernte Ähnlichkeit haben. Die letzten 12 Jahre verschwanden, an ihre Stelle trat die Realität mit all dem, was jetzt gerade passiert.

Im Internet sah ich überall rote Pfeile, die die ukrainische Hauptstadt umkreisten, und ich wollte unbedingt, dass meine Freunde fliehen, bevor es zu spät ist und die Russen es wie mit Aleppo machen. Die syrische Stadt sah aus wie Warschau im Jahr 1944, verbrannt und dem Erdboden gleichgemacht.

– Wie kommt ihr zurecht und wann werdet ihr die Stadt verlassen? - Das war alles, was ich wissen wollte. Die Mädchen – inzwischen erwachsene Frauen mit Kindern, in meinem Feed aber immer noch Mädchen – waren unnachgiebig. – Wir werden nirgendwo hingehen. Wir werden kämpfen und siegen. Die Stadt wird nicht fallen.

Sie müssen mit all dieser Propaganda gefüttert worden sein - dachte ich bei mir. Ich wusste nur zu gut, wie die polnische Regierung ihre Bürger vor 1939 einer Gehirnwäsche unterzogen hatte. Der Krieg würde in zwei Wochen vorbei sein, rühmten sie sich. Und das war er auch.

Man sollte nicht zu ehrlich mit Menschen im Belagerungszustand sein. Zumindest dachte ich, dass man das nicht sollte. Das ist schlechtes Benehmen. Und schlecht für die Moral.

 – Sobald ihr euch entscheidet zu gehen, holen wir euch raus. Wie genau, das wusste ich allerdings überhaupt nicht. 

Ich habe versucht, unter diesen Umständen optimistisch zu bleiben. Irgendwann müssen sie zur Vernunft kommen. Das war das Beste, was ich mir erhoffen konnte.

Mit meinem Schulrussisch zwang ich mich, Kreml-Propagandasendungen zu sehen und versuchte, ukrainische Nachrichten zu lesen. Auf Twitter folgte ich allen Accounts mit "intel", "war" oder "strategy" und fühlte mich fast wie ein Profi, der die meisten Nachrichten noch vor dem Live-Feed des Guardian oder der Financial Times erhielt.

Ab fünf Uhr morgens bildeten sich lange Schlangen vor den Passbehörden. Nicht von Ukrainern, sondern von Polen. Vier Monate vor dem Sommer beschlossen junge und alte Menschen plötzlich, dass sie dringend einen Reisepass brauchten.

– „Unsere Tante drängt uns, unsere Pässe zu erneuern, damit wir in die USA kommen können, falls etwas passiert“, sagt jemand. 

– Ich kenne eine Brücke an der Oder nach Deutschland – es ist eine Eisenbahnbrücke – man kann über den Fluss gehen, kein Problem – habe ich im Café gehört. – Wisst ihr, dass in Alicante bis vor Kurzem Hunderte von Eigentumswohnungen zum Verkauf standen. Polen aus der oberen Mittelklasse haben sie gekauft. Jetzt sind sie alle weg – erklärte mir ein Freund. – Mein Onkel hat ein Haus in Spanien gekauft – damit er keine Miete zahlen muss, falls etwas passiert, erzählte mir ein anderer Freund kürzlich. 

Menschen im Ausland, von denen ich seit Jahren nichts mehr gehört hatte, meldeten sich und wollten wissen, wie es uns geht. Uns ging es gut. Also fast. Der Reisepass unseres Sohnes war noch weniger als einen Monat gültig. Flüchtlinge kamen ja oft ganz ohne irgendwelche Papiere, dachte ich, aber das war nur ein kleiner Trost. Das stundenlange Warten in der Schlange, um den Pass zu bekommen, fühlte sich erniedrigend an. Ich wollte den Aggressoren keinen leichten Sieg schenken. Wenn Sie uns Angst einjagen wollen, Herr Putin, müssen Sie sich schon mehr einfallen lassen.

Innerhalb weniger Tage kamen bereits die ersten Flüchtlinge über die Grenze. Zum ersten Mal seit diesem neuen Krieg bin ich mit dem Zug gefahren. Ich sah sie auf dem Bahnhof ankommen. Ein, maximal zwei Taschen. Alles, was sie tragen konnten. Nur Frauen und Kinder. Manche von ihnen warteten auf jemanden, der sie abholen würde. Die polnischen Gastgeber waren sichtlich angespannt, aber herzlich. Wie soll man mit Menschen reden, die alles zurückgelassen haben? Ihre Angehörigen? Gebrochenes Russisch schien geeignet. Die gebrochene Sprache eines gebrochenen Landes. Eine neue Sprache der Solidarität, die nun entsteht aufgrund eines ähnlichen Schicksals, das nach den Polen jetzt den Ukrainern aufgezwungen wird. 

Wie immer werden die Gleise in letzter Minute geändert. Eine Gruppe von vier Frauen und mehreren Kindern versucht, einen Zug nach Zgorzelec (Görlitz) zu finden, in Westpolen an der deutschen Grenze. Sie müssen den Bahnsteig wechseln, ich trage ihr Gepäck und verpasse meinen Zug. Ich habe kein Bargeld, ihr Zug fährt in 2 Minuten, ich eile in den Bahnhofsladen, um ihnen etwas zu essen oder zu trinken zu kaufen. Zu spät.

Die Frauen umarmen sich, sie können ihre Tränen nicht zurückhalten. Sie fühlen sich ängstlich und erleichtert zugleich. – Woher kommen Sie genau?, erkundige ich mich. – Aus einer kleine Stadt in der Nähe von Kiew, die jetzt ständig unter Beschuss steht. Sie heißt Butscha.

– Butscha, daran werde ich mich erinnern.

In Zusammenarbeit mit S. Fischer Stiftung

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