Schalt mal ab, Europa

Europas Stresstests an Atomkraftwerken liefern ausreichend Gründe, um alte Meiler abzuschalten, meint die atomkritische Frankfurter Rundschau. Aber die EU-Kommission setzt auf teure Nachrüstung. Ihr fehlt der deutsche Mut zum Atomausstieg.

Veröffentlicht am 5 Oktober 2012

Es fehlen: die Airbags, das ESP, der Katalysator, das Halogen-Fernlicht, die Einparkhilfe, die elektrischen Fensterheber. Niemand käme auf die Idee, einen 40 Jahre alten VW Käfer so nachzurüsten, dass er für den modernen Verkehr taugt, der doppelt so dicht und viel schneller ist als am Tag von dessen Erstzulassung. Nur wenige Zeitgenossen würden sich gerne in die alte Kiste setzen, um damit täglich zur Arbeit fahren. Und selbst als Oldtimer für kleine Ausflüge am Sonntag taugt der Käfer von Anfang der 70er-Jahre nur bedingt; dafür ist er nun wieder nicht alt und speziell genug.

Natürlich ist ein Atomkraftwerk kein Auto. Es ist viel komplexer, es ist auf 40 Jahre Laufzeit ausgelegt, und es wird, soweit möglich und wenn ein Betreiber mit hohem Sicherheitsbewusstsein am Werke ist, kontinuierlich nachgerüstet. Trotzdem hat ein AKW, das wie die Anlagen der ersten Reaktorgeneration in der EU in den 60er-Jahren entwickelt und in den 70er-Jahren ans Netz ging, auch etwas von einem VW Käfer. Es kann nicht mit vertretbarem Aufwand so modernisiert werden, dass es modernem Standard genügte und heute genehmigungsfähig wäre. Die Alt-Meiler gehören stillgelegt, so wie der Käfer längst auf dem Schrottplatz gelandet ist.

Aus Brüssel

Höhere Strompreise nach Stresstests

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Die meisten der EU-weit 145 Atomreaktoren sind nicht ausreichend gegen Naturkatastrophen gewappnet und müssen sicherheitstechnisch nachgerüstet werden, sagt die EU-Kommission in ihrem Bericht zur atomaren Sicherheit, der am 4. Oktober vorgestellt wurde. Die Kosten der Nachbesserungen würden sich auf zwischen 10 und 25 Milliarden Euro belaufen — „eine Rechnung, die höchstwahrscheinlich an den Endverbraucher weitergegeben wird“, schreibt der Daily Telegraph.

Die Londoner Tageszeitung berichtet, dass die Europäische Kommission ihre Untersuchung nach den Parametern des Erdbebens und des Tsunami vom März 2011 im erdbebengefährdeten Japan durchgeführt hat, welche die Anlage von Fukushima beschädigten.

EU-Energiekommissar Günther Oettinger, der den Vorfall von Fukushima — der wohlgemerkt kein einziges Menschenleben forderte — nicht unumstritten als „Apokalypse“ bezeichnet hat, räumte ein, dass die Sicherheitsstandards in Europa „im allgemeinen hoch“ seien.

Dennoch verkündete der Kommissar, das er plane, eine neue EU-Regelung einzuführen, welche die Atomindustrie zwingen werde, Haftpflichtversicherungen für die theoretischen Risiken einer nuklearen Katastrophe abzuschließen. Er sagte:

Die Versicherungspflicht wird zu erhöhten Kosten führen, welche sich im Strompreis für den Verbraucher niederschlagen werden. Dies wird die Wettbewerbsfähigkeit von Atomstrom sicherlich nicht stärken.

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