Schottische Fans beim Finale der Curling-EM 2007 in Deutschland.

Schottlands Unabhängigkeit bleibt zu definieren

Der jüngste Wahlsieg der Nationalisten bringt den Gedanken der Unabhängigkeit Schottlands wieder auf den Tisch. Doch am Beispiel Kataloniens und des Baskenlands zeichnet sich ein Europa der Bundesstaaten ab, meint El País.

Veröffentlicht am 25 Mai 2011 um 15:30
Schottische Fans beim Finale der Curling-EM 2007 in Deutschland.

Der überwältigende, unerwartete Wahlsieg der Scottish National Party [SNP, Schottische Nationalpartei], die bei den Regionalwahlen vom 5. Maientgegen aller Erwartungen 69 von den 129 Sitzen davontrug, ebnet den Weg für ein Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands. Die vor zehn oder 15 Jahren noch als ein Hirngespinst betrachtete Möglichkeit einer Unabhängigkeit wird langsam ernst genommen, selbst wenn die jüngsten Umfragen enthüllen, dass die Trennung paradoxerweise mehr von den Engländern als von den Schotten selbst gewünscht wird.

Das Autonomiesystem Schottlands, die „devolution“ oder Übertragung von administrativer und parlamentarischer Gewalt, wurde 1997 von der Labour-Partei eingerichtet. Diese Dezentralisierung ging davon aus, dass die Schotten mit zunehmender Autonomie ihre Unabhängigkeit immer weniger anstreben würden. Viele denken heute, das Gegenteil sei eingetreten. Andere wiederum finden, es sei noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen.

In Schottland wollen die Armen austreten

Der Wahlsieg der SNP bewegte in Spanien die Gemüter. Wie könnte man hier keine Parallele zu den Unabhängigkeitsbestrebungen eines Teils der baskischen und katalanischen Bevölkerung ziehen? Dabei gibt es da enorme Unterschiede. Das Vereinigte Königreich wurde vor 400 Jahren gebildet, als Jakob VI. von Schottland auch König von England wurde. Ein Jahrhundert später, 1707, wurde die Union durch die Zusammenlegung des englischen und des schottischen Parlaments besiegelt. Im Gegensatz zum Vereinigten Königreich ist Spanien hingegen ein komplexes Gebilde mit 17 autonomen Regionen, die verschieden ausgeprägte Autonomiewünsche besitzen. Und in Schottland wollen die Armen austreten, nicht die Reichen [anders als in Spanien, wo Katalonien und das Baskenland reiche Regionen sind]. Auch steht nicht die nationale Identität der Schotten und der Engländer im Mittelpunkt der Forderungen.

Was auch immer der Grund ist – die Möglichkeit, dass Alex Salmond, der charismatische Separatistenchef, zu einer Volksbefragung aufruft, löst in Großbritannien kein politisches Protestgeschrei aus.

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„Die SNP ist ein wenig optimistisch, wenn sie denkt, sie könne ein Referendum über die Unabhängigkeit gewinnen“, meint der Historiker Sebastian Balfour, eremitierter Professor für Moderne Hispanistik an der London School of Economics. „Die Konsequenzen eines negativen Ergebnisses wären für die SNP sehr schwerwiegend, denn die Lage in Schottland ist doch sehr außergewöhnlich. Sie ist ganz anders als in Spanien, befürworten doch viel mehr Engländer als Schotten die schottische Unabhängigkeit, wie auch weniger Engländer als Schotten dagegen sind. Ein großer Teil der Schotten will die Union mit England beibehalten. Es ist, als ob die Engländer ihre imperialistisch-nationalistische Identität gegen eine post-nationale Identität ausgetauscht hätten, eine gemeinschaftliche Identität, die sozusagen weniger lokal oder regional wäre. Und ich bezweifle doch sehr, dass die SNP momentan die Frage des Referendums stellt. Ich glaube allerdings – und das ist ganz etwas anderes –, dass ihre Strategie langfristig darin liegt, zu beweisen, dass sie die Angelegenheiten im Sinn der Interessen Schottlands verwalten kann.“

Inwieweit kann sich dieser überwältigende Wahlsieg der SNP auf Spanien auswirken? „Er kann bis zu einem gewissen Grad die separatistische Strömung in der öffentlichen Meinung verstärken, doch ich glaube nicht, dass es viel Resonanz geben wird“, meint Balfour dazu. „Ich halte das für nicht so wichtig. Es gibt große Unterschiede, und in Wirklichkeit hat sich Schottland heute Katalonien und dem Baskenland dahingehend angenähert, dass es jetzt eine nationalistische Partei mit der Parlamentsmehrheit besitzt. In Spanien ist das schon lange der Fall.“

Was bedeutet Schottischsein?

Schottland sei nationalistisch „in dem Sinne, dass sich die Leute vor allem schottisch fühlen; doch sie sind auch britisch“, beteuert David McCrone, Mitdirektor des Instituts für Governance an der Universität Edinburgh. „In Katalonien stellt sich die Frage auf einer Skala mit fünf Stufen: Man ist entweder Katalane und nicht Spanier, mehr Katalane als Spanier, ebenso Katalane wie Spanier, mehr Spanier als Katalane oder Spanier aber nicht Katalane. In dieser Hinsicht ist Schottland schottischer als Katalonien katalanisch ist. Dieses Phänomen hat viel mit der Immigration aus den anderen Gegenden Spaniens zu tun. Und es hängt vielleicht auch mit der sprachlichen Frage zusammen.“

Was Schottland betrifft, so ist die Sprache kein Problem. „Die Sprache ist heute nicht mehr der Preis, den man zahlen muss, um schottisch zu sein“, erklärt McCrone. „Das Schottischsein ist eine territoriale, keine linguistische oder ethnische Frage. Demzufolge fühlen sich die Leute, die nach Schottland einwandern, leichter schottisch. Die Sprache ist keine Existenzberechtigung, kein wesentlicher Faktor der nationalen Identität und kein Mittel, sein Anderssein auszudrücken, wie etwa die Sprache in Québec“. Oder in Wales, wo der Nationalismus schwächer ist als in Schottland, aber wo fast jeder vierte Einwohner walisisch spricht.

Aus all diesen Gründen ist die Unabhängigkeitsdebatte in Schottland pragmatischer als im Baskenland oder in Katalonien. McCrone zufolge ist der Sieg der SNP nicht wirklich ein Sieg des Separatismus gegenüber des Unionismus: Er ist vor allem ein Ausdruck des Grades an Unabhängigkeit, den die Schotten wünschen.

„In den letzten 20 Jahren haben sich manche von uns weniger auf die Unterscheidung zwischen Unabhängigkeit und Autonomie konzentriert und haben mehr darüber nachgedacht, wie sich die Autonomie an sich entwickeln kann. Bei der Debatte geht es in Wirklichkeit um den Grad an Autonomie und um die Mittel, mehr davon zu bekommen.“

Autonomie- eine Frage der geteilten Hoheit

McCrone macht sich über die grob vereinfachende Einstellung Londons gegenüber der Schottlandfrage lustig. „Die Metropole tendiert dazu, zwei Gesichtspunkte zu privilegieren: Entweder wird Schottland nie unabhängig sein oder aber die Unabhängigkeit ist unvermeidbar“, erklärt er. „Meiner Ansicht nach ist es viel komplizierter. Wir leben in einer Welt, in der die Bedeutung der Unabhängigkeit problematisch ist. Eigentlich geht es bei der Debatte um die Stufen der Autonomie. Wenn man unter Unabhängigkeit den klassischen unabhängigen Staat des 19. Jahrhunderts versteht, mit einer Armee, mit Landesgrenzen usw., dann liegt man natürlich völlig daneben. Das ist nicht die Welt, in der wir heute leben.“

Und er fügt hinzu: „Wir leben in einer Welt, in der die Autonomie auf mehreren Ebenen geteilt wird. Sowohl der spanische als auch der britische Staat sind Mitglieder der Europäischen Union. Und die EU hat durchaus Macht. Es ist nicht eine Frage der absoluten Hoheit, sondern der geteilten Hoheit.“

„Meine eigene Vorhersage ist, dass Großbritannien einen staatenbündischen Weg einschlagen wird“, meint der Forscher weiter. „In anderen Worten wird es zu gegebener Zeit einen höheren Grad an Autonomie geben. Ebenso wie es das, aus sehr unterschiedlichen Gründen und in einem anderen Kontext, in Belgien gibt. Die Gewaltenübertragung in Flandern und Wallonien ist beträchtlich.

Wir orientieren uns hin zu einer Welt von Staatenbünden, und nicht zu einer Welt von absolut unabhängigen Staaten. Eine Welt, in der Schottland, Katalonien und natürlich auch das Baskenland autonomer sein werden. Die Dinge ändern sich. Und das Verhalten, das die zentralen Regierungen an den Tag legen, ist dabei absolut wesentlich. In Großbritannien haben die Konservativen aus den Ereignissen ein paar Lehren gezogen. Sie sind nicht mehr so aggressiv und borniert wie zu der Zeit, als sie an der Macht waren. Bleibt zu sehen, ob es anhält.“

Steht also das Unvereinigte Königreich Großbritannien vor der Tür? Wie Alex Salmond erinnert: „Es hieß immer, es würde nie ein schottisches Parlament geben, und es gibt eines. Es hieß auch immer, wir würden nie eine Wahl gewinnen, und 2007 haben wir gewonnen. Es hieß, wir würden nie die absolute Mehrheit erlangen, und wir haben sie. Heute heißt es, wir würden nie ein Referendum über die Unabhängigkeit gewinnen.“ Wer weiß! (p-lm)

Wirtschaft

Erdöl: Keine Garantie für Unabhängigkeit

Für die Neue Zürcher Zeitung ist eine „Unabhängigkeit für die Schotten wirtschaftlich nicht sinnvoll“, auch wenn Schottland durchaus „mehr als Whisky, Erdöl und Dudelsäcke" besitzt. Mit einer Wertschöpfung von 15.453 Milliarden Pfund (17.811 Milliarden Euro) im Jahr 2007, bleibt der Energiesektor Schottlands wichtigste Einnahmequelle, berichtet die Tageszeitung aus Zürich. Aufgrund der Preisschwankungen und der abnehmenden Erdölreserven sei es für ein unabhängiges Schottland "eine echte Herausforderung mittelfristige Budget-Planungen sicher zu stellen", warnt das Blatt. Mit Windenergie könne man sich zwar von der Abhängigkeit von den Erdöleinnahmen lösen, jedoch seien die erneuerbaren Energien für Schottland derzeit noch „ein Zuschussgeschäft".

Der zweite Pfeiler der schottischen Wirtschaft – die Finanzen – steht in Krisenzeiten ebenfalls nicht auf einem stabilen Fundament. Die Royal Bank of Scotland und die HBOS mussten vom britischen Steuerzahler gerettet werden. „Der Traum von der [...] Unabhängigkeit würde für die Schotten zu einem bösen Erwachen führen. Mehr finanzielle Autonomie [...] könnte Schottlands Wirtschaft hingegen durchaus beleben", meint die Zeitung.

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