Nachrichten Eine Stadt in Europa
Hermannstadt. Der große Platz vor dem Rathaus.

Sibiu, so bayerisch...

Die ehemalige europäische Kulturhauptstadt Sibiu hat ihren Glanz behalten und entwickelt sich laut der Zeitung Adevarul täglich aufs Neue; nicht unbedingt zu einem Babel in Miniatur, sondern vielmehr zu einem Deutschland im Kleinformat.

Veröffentlicht am 14 Juni 2011 um 12:10
Mircea Turcan  | Hermannstadt. Der große Platz vor dem Rathaus.

Gerade als ich dachte, Rumänien sei die Heimat der Traurigkeit und des Unglücklichseins, habe ich zwei Tage in Sibiu (dt.: Hermannstadt) verbracht. Es war ein Wochenende und ich war auf der dortigen Buchmesse, die die siebenbürgische Stadt mit deutscher Vergangenheit jedes Jahr organisiert. Ich war seit Mitte der 90er Jahre nicht mehr in Hermannstadt gewesen, damals spielte die lokale Fußballmannschaft noch in der ersten Liga, aber das kommunistische Grau bestimmte noch das Stadtbild. Die Menschen lebten in Angst und waren abhängig von der staatlichen Industrie, die gerade in ihren letzten Zügen lag.

Die Albträume vom Dezember 1989, als die Straßen rot vor Blut waren, warfen noch ihre Schatten – die Bilanz: 99 Tote und einige Hundert Verletzte, erschossen von mysteriösen Scharfschützen (angeblich die Spezialkommandos von DIA und sowjetische „Touristen“), oder von einem verrückten Oberst (Aurel Dragomir, der Mann des Generals und Spion Nicolae Militaru), gejagt aus einem Helikopter (der unter dem Kommando desselben Militaru stand und mit der außerordentlichen Beteiligung des Generals Josif Rus, der später von Präsident Ion Iliescu dafür mit dem Posten als Berater im Regierungssitz Cotroceni entschädigt wurde).

Wie auf dem Münchner Marienplatz

Das Hermannstadt des Jahres 2011 hat nichts mehr gemein mit der ärmlichen Stadt der 90er Jahre! Das gilt für jeden Bürger von Sibiu, das das Flair einer westlichen Stadt verströmt: vom korrekten, zivilisierten und optimistischen Taxifahrer bis hin zur aufmerksamen und freundlichen Empfangsdame an der Hotelrezeption. Verstärkt wird dieser Eindruck noch in der historischen Altstadt, dort wo sich die lebendigen und geschichtsträchtigen Plätze Kleiner und Großer Ring befinden. In keiner anderen rumänischen Stadt findet man eine derart entspannte, schöne und fröhlich anmutende Fußgängerzone!

Die vielen geschmackvollen, dem Zeitgeist entsprechenden Caféterrassen, die sich aneinander reihen, ziehen täglich bis weit nach Mitternacht Tausende Menschen an. Es wird rumänisch gesprochen, aber man hört ebenso Deutsch, Ungarisch, Englisch oder Französisch. Hie und da begegnet man auch mit Fotoapparat ausgestatteten Japanern oder Arabern. Hermannstadt strahlt bei jedem Schritt eine Jugendhaftigkeit aus, die man selbst bei flanierenden Familien mit Mutter, Tochter und Oma verspürt.

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Diese Jugendlichkeit kommt aus dem Gemütszustand und nicht aus dem tatsächlichen Alter. Es ist ein Lebensgefühl ähnlich wie in München, wo man die Lebenslust an 365 Tagen im Jahr spürt. Nach einigen Stunden im belebten Getümmel der Altstadt, hat man den Eindruck auf dem Münchner Marienplatz zu sein. Vielleicht ist dieses Wunder dem Internationalen Theaterfestival, das bereits seit 18 Jahren in der Stadt gastiert, zu verdanken.

Letztlich haben mir die Hermannstädter Gewissheit gebracht: seit 2007, als die Stadt zur europäischen Kulturhauptstadt gekürt wurde, ist Sibiu eine ständige Kulturbühne. Die Bandbreite der gebotenen Veranstaltungen ist überwältigend – vom Theater und Film über Bücher und mittelalterliche Kunst – Woche für Woche gibt es ein spannendes, gut geplantes Kulturprogramm.

Deutschland ein bisschen ähnlicher werden

Dieses Wunder ist aufs engste mit der Kulturindustrie verknüpft und steht auch wirtschaftlich auf soliden Beinen. Unterwegs habe ich in Gesprächen erfahren, dass sich im Umland zahlreiche Fabriken - maßgeblich Autozulieferer - angesiedelt haben. Auch dies ist eine Folge der ausländischen Investitionen, die in den letzten 10-15 Jahren vor Ort getätigt wurden. Die Menschen haben so ein gesichertes Auskommen und dank des siebenbürgischen gesunden Menschenverstandes und des deutschen Bildungswesens (die Deutschen sind zwar größtenteils ausgewandert, ihre guten Sitten sind aber geblieben), leben sie ein optimistisches und würdiges Leben.

Ich konnte Hermannstadt nicht ohne einen Besuch auf der Straße der Revolution verlassen. Dort finden sich in einem Abstand von 20 Metern zwei gegenübergestellte Marmorplatten. Auf der einen, die vor der Polizei angebracht ist, sind die Namen der 25 Offiziere und Unteroffiziere des Innenministeriums eingemeißelt, die am 22. Dezember 1989 ihr Leben verloren haben. Auf der anderen Seite, vor der Akademie der Bodentruppen „Nicolae Balcescu“ wird der sechs am selben Tag getöteten Soldaten gedacht.

Die verliebten Paare, die an diesem schönen Sommertag des Jahres 2011 unter den Lindenbäumen flanierten, schienen von diesem blutigen Kapitel der Stadtgeschichte wenig beeindruckt. Dies ist ein Zeichen dafür, dass Hermannstadt seine Vergangenheit zwar nicht vergessen hat, aber die Trauer darüber überwunden hat und nun ganz in der Gegenwart lebt und sich seine Zukunft aufbaut.

Wenn es in Rumänien mindestens 20 Städte wie Sibiu geben wird, dann wird es beginnen, Deutschland ein bisschen ähnlicher zu werden.

Aus dem Rumänischen von Ramona Binder

Musik

Sibiu, Hauptstadt des Barock

Wer hätte das gedacht: Die Heimat des Grafen Dracula ist auch eine Hochburg der Barockmusik. Die jüngste Entdeckung von Tausenden von Partituren im Nationalarchiv von Sibiu (dt.: Hermannstadt) lüftet den Schleier dieses vergessenen Erbes. Es seien Deutsche, die sich ab dem 13. Jahrhundert in Siebenbürgen angesiedelt hatten und dort unter dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich ihre Blütezeit erlebten, die sie komponiert hätten, erklärt Le Monde. „Das kommunistische Regime, das nach dem Zweiten Weltkrieg die Macht übernahm, hat der musikalischen Blüte dieser Region ein Ende bereitet.“ Die Deutschen seien geflohen und ließen verlassene Dörfer hinter sich. Und vergessene Schätze wie die besagten Partituren. Heute hat Sibiu 90 Prozent seiner Bevölkerung verloren und zählt nur noch 1400 Seelen, darunter Kurt Philippi, Kantor und Chorleiter der evangelischen Kirche, der mit seiner Frau sich daran gemacht hat, dieses bis dato unbekannte Erbe zu entziffern. Eine langwierige Arbeit, die ihn nicht entmutigt, denn es geht Wichtiges: „Heute ist die Zeit gekommen, um zu verstehen, dass eine Nation ihre Geschichte durch die Musik wiederentdecken kann.“

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